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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

35-36

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Vermeylen, Jacques

Titel/Untertitel:

Jérusalem centre du monde. Développements et contestations d’une tradition biblique.

Verlag:

Paris: Cerf 2007. 401 S. 8° = Lectio divina, 217. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-2-204-08262-4.

Rezensent:

Eckart Otto

Das Interesse an Jerusalem als Heiliger Stadt der drei monotheis­tischen Weltreligionen lässt nicht nach – im Gegenteil: Nicht nur das wiedererwachende Interesse an religiösen Phänomenen lässt verstärkt neu nach der Geschichte der Stadt fragen, sondern vor allem auch die in dieser Stadt besonders dramatisch aufeinandertreffenden Ansprüche politischer Theologie der drei Weltreligionen.
J. Vermeylen legt mit dem hier anzuzeigenden Buch eine konsequent exegetische, am Alten und Neuen Testament orientierte literaturhistorische Studie zu den mit dem antiken Jerusalem verbundenen und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen durch die Geschichte von mehreren Jahrhunderten hindurch stets umstrittenen Heilsideen vor. Über weite Strecken liest sich die Studie wie eine Zusammenfassung des umfangreichen Œuvres des Vf.s mit einem Schwerpunkt in der Analyse des Jesajabuches und der Erzählungen der Samuel- und Königebücher. Der Vf. beginnt mit einem Kapitel zur kosmischen Symbolik des Jerusalemer Tempels, um so den Ausgangspunkt für eine Traditionslinie zu gewinnen, die in Jerusalem einen Ort der Gottespräsenz und also ein Zentrum der Völkerwelt in universaler Dimension sah, die durch eine andere Linie im Namen der Ethik als entscheidenden Schlüssel für das Gottesverhältnis vor allem in prophetischen Worten und den Erzählungen der Vorderen Propheten, die keine Geschichte der Wallfahrt nach Jerusalem schreiben, bestritten wurde.
Die Überlegungen zur kosmisch-symbolischen Funktion des Jerusalemer Tempels werden konkretisiert durch Texte der spätvorexilischen Zeit in den Psalmen 2; 46 und 48, die der Vf. in ihrem Kern in die erste Hälfte des 7. Jh.s datiert, und in Orakeln des Jesajabuches (Jes 8,9 f.; 17,12–14; 29,5–7; 37,33–35), die sich einer relecture jesajanischer Worte zur Zeit Manasses verdanken und die einen Motivkomplex des vergeblichen Angriffs der Völker gegen Jerusalem als Gottesstadt zum Ausdruck bringen. In der josianischen Opferzentralisation am Jerusalemer Tempel sieht der Vf. eine politische Applikation der Ideologie der Zentrumsfunktion Jerusalems. In Gen 11,1–9; Jes 13; 24 und Jer 50 f. sei als Reaktion auf die babylonische Zerstörung Jerusalems Babylon als Zentrum des Bösen negativ gewertet Jerusalem entgegengesetzt worden, wobei die Kerntexte von Jes 13 und Jes 24 kurz nach der Zerstörung Babylons im Jahre 482 v. Chr. formuliert sein sollen. In Hag 2,6–9; Jes 60; 2,2–5 (Mi 4,1–5) sowie Jes 66,18–24; Jer 3,17; Sach 8,20–23 sei den Ideologen des Weltzentrums in Jerusalem das Motiv der Völkerwallfahrt nach Jerusalem zugewachsen. Diese Tradition soll ihren Ur­sprung in einem in Jes 2,2–4 verwendeten Hymnus haben, der die religiöse Reform des Königs Josia feierte. In nachexilischer Zeit sei im Kontext eines Programms des Wiederaufbaus des Tempels diese Tradition wieder aufgenommen und bis in hellenistische Zeit ausgebaut worden.
Der so entwickelten Traditionslinie, die ihren Ausgangspunkt in der Jerusalemer Tempeltheologie habe, stehe eine vor allem prophetisch inspirierte Linie gegenüber. Die prophetischen Orakel »privilégient, en effet, le sens de la liberté ou la responsabilité humaines, et non le caractère implacable d’un ordre cosmique immuable symbolisé par le Temple et sa liturgie« (227). Hosea, Jesaja, Micha, Zephanja, Jeremia und Ezechiel seien darin Erben des Propheten Amos. Der Vf. exegesiert in diesem Zusammenhang Mi 3,9–12; Jer 7,1–15; Am 5,21–27; Jes 1,10–17; Mi 6,1–8; Jes 58; Ps 50; Jes 66,1–2. Die dtr Schule habe im Exil das prophetische Erbe der vorexilischen Zeit aufgenommen und die prophetische Ankündigung der Tempelzerstörung verarbeitet und in die Prophetenbücher unter Einschluss der Vorderen Propheten eingeschrieben. Man wird dem Vf. darin Recht geben, dass in nachexilischer Zeit Spannungen in Bezug auf die Bedeutung des Tempels in Jerusalem unübersehbar sind. Die tempelkritische Linie habe sich schließlich bei Paulus und in der Evangelienliteratur des Neuen Testaments fortgesetzt.
Der Vf. hat einen wichtigen Aspekt kontrovers verlaufender biblischer Traditionsbildung rekonstruiert. Er stützt sich dabei auf eine stark literaturhistorisch innerhalb der analysierten Texte differenzierende Literarkritik, die mit einer Fülle von literarischen Schichten nicht nur in der Redaktion der prophetischen Bücher, sondern kleinräumig auch der je einzelnen Texte rechnet. Dieses starke Vertrauen in die Leistungskraft der Literarkritik als vornehmliches methodisches Werkzeug des Exegeten gegen alle Einsprüche seit der Formgeschichtlichen Schule des frühen 20. Jh.s lenkt auf J. Wellhausen und das ausgehende 19. Jh. zurück. Der Vf. hat Recht darin, dass die biblische Traditionsbildung das Ergebnis kontroverser Diskurse ist, die man heute aber nicht nur ideengeschichtlich rekonstruieren, sondern auch institutionsgeschichtlich verorten sollte. Ob ein Gegensatz von kultisch-rituellem und prophetisch-ethischem Denken, womit der Vf. wie mit der Pro­phetenanschlusshypothese an Wellhausen und seine Schule an­knüpft, sich als Substanz der Konflikte zwischen dem priesterlichen und dem prophetischen Denken er­weist, ist m. E. zu bezweifeln.
Für alle Überlegungen in diese Richtung hat der Vf. aber mit seinen sorgfältigen Textexegesen einen guten Ausgangspunkt geliefert.