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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

33-35

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Reiser, Marius

Titel/Untertitel:

Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XII, 407 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 217. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-149412-3.

Rezensent:

Alf Christophersen

Wie Bibelkritik und Schriftauslegung in der historischen Entwick­lung biblischer Exegese und Hermeneutik aufeinander bezogen wurden, ist die Leitfrage, unter der Marius Reiser zehn seit 1999 bereits verstreut an anderen Orten erschienene Studien und zwei bislang unveröffentlichte präsentiert. In einer »Einführung« (1–38) legt der Mainzer katholische Neutestamentler Rechenschaft über Methode und Zielrichtung seiner Aufsatzsammlung ab: Die Frage nach der Vereinbarkeit von Tradition und Moderne markiert er dabei als das Kernthema seiner Untersuchungen. Und nur ein Blick auf die Geschichte der Hermeneutik helfe bei dem Unterfangen weiter, »die Grundannahmen der christlichen Exegese ... sowie die Faktoren ihres Wandels« (4) angemessen zu beschreiben. Im An­schluss an eine mit knappen Wertungen versehene Präsentation gängiger Darstellungen zur Geschichte der Exegese – von Richard Simon bis hin zu Henning Graf Reventlow – bemüht sich R. darum, »Motive und Umstände« der Wissenschaftsentwicklungen zu be­nennen, die zur modernen Bibel-Auslegung führten.
Seine Betrachtungen setzen im 16. Jh. an und fallen unstrukturiert-assoziativ aus, ein roter Reflexionsfaden wird nicht recht erkennbar. Am Ende äußert sich R. zum Zusammenhang von Kritik und historischer Forschung, wobei er insbesondere seinem Unbehagen gegenüber der verbreiteten theologischen Verwendung des Begriffs »Kritik« Raum gibt. Dieser lasse sich nicht so ohne Weiteres auf den »endlich siegreichen Kampf der Göttin ›Wahrheit‹ gegen Uneinsichtigkeit, Traditionalismus und Dogmengläubigkeit« reduzieren.
Das im 19. Jh. geprägte Wortpaar »historisch-kritisch« sei Kennzeichen einer von den »Grundüberzeugungen der Aufklärung« bestimmten Auslegungsweise. Demgegenüber schlägt R. vor, zum humanistischen Sprachgebrauch zurückzukehren, um »Kritik als eine Kunst zu verstehen, die in der Anwendung gewisser Regeln und Methoden« bestehe; dann werde auch »das Ungetüm ›historisch-kritisch‹ überflüssig; es gibt nur noch kritische und unkritische, gute und schlechte Exegese, und jeder weiß, was gemeint ist« (36). Ob freilich jeder Leser verstehen wird, worin die substantielle Leis­tung dieses unvermittelten Korrekturvorschlages liegen könnte? Um sie zu erkennen, bedarf es wohl einer bewusst simplifizierenden Sichtweise der gegen alle historische Evidenz zum feindlichen Singular-Phänomen verzerrten Aufklärung. R. zumindest ist da­von überzeugt, dass »historische Forschung, die im aufklärerischen Sinn kritisch sein will, ... vor allem das Enthüllen und Entlarven zum Ziel« (37) habe. Mit Bezug auf Johann Gustav Droysen und Marc Bloch vertritt er dagegen die Ansicht, dass nicht Kritik, sondern forschendes Verstehen das letzte Ziel historischer Forschung sein müsse. »Für das Verstehen«, so R.s Pointe, »mag Kritik ein notwendiger Bestandteil sein; zunächst aber gehören dazu Sympathie und Freundschaft.« (38; vgl. 58)
Für die Briefe des Apostels Paulus könnte diese These noch ganz attraktiv erscheinen, aber schon bei der Anwendung auf Texte Machia­vellis dürfte es Schwierigkeiten geben – die allerdings vermeiden kann, wer als Leser den Blick 200 Jahre zurück auf eine Zentralgestalt der Entwicklungsgeschichte von Exegese und Hermeneutik richtet, auf den protestantischen »Kirchenvater des 19. Jahrhunderts«. Denn eine der großen Leistungen Friedrich Schlei­er­machers liegt ja darin, die Hermeneutik in ihrer Verbindung mit den elaborierten Texterschließungstechniken klassischer Philologie als Methode kritischer, historischer Auslegung erfasst zu haben, so dass den alt- und neutestamentlichen Schriften zunächst kein wie auch immer gearteter Sonderstatus beigemessen werden musste. Ausgerechnet Schleiermacher (wie übrigens auch Herder) aber wird von R. souverän ignoriert.
Mit der kontraststarken, wenn auch recht willkürlich montierten Traditionskonstruktion der »Einführung« im Rücken wendet sich R. dann unter dem Titel »Bibel und Kirche« (39–61) umgehend Ulrich Luz zu. R. erkennt in ihm einen protestantischen Theologen, der vor allem im Kontext seiner Thesen zur Wirkungsgeschichte eine Exegese vertrete, die auf die allmähliche Auflösung der Wahrheit und letztlich auch der Kirche im Zeichen eines religiösen Pluralismus hinauslaufe. Diese Perspektive sei typisch für den »sogenannten Neuprotestantismus« (41), dem es unter Verzicht auf jeglichen Absolutheitsanspruch um ein überkonfessionelles Chris­tentum gehe. Schon Luthers Fixierung auf das sola scriptura habe sich als Irrweg erwiesen, der in eine dogmatische Vielfalt führe, die ohne Lehramt nicht zu bändigen sei. Luz’ Thesen münden nun, so R., in die Selbstverkleinerung des Christentums, das sich, zur beliebigen Privatsache reduziert, auf dem Markt der Möglichkeiten neben anderen mehr oder minder dubiosen Sinnstiftungsangeboten behaupten muss, und er betont: »Diesem Eklektizismus und Subjektivismus, in dem das Prinzip der Freiheit zum Prinzip der Willkür und zum Mittel einer Selbsterlösung wird, können wir nur entgehen durch das Festhalten am kirchlichen Glaubenszeugnis als einer regulativen Norm der Schriftauslegung.« (46) Kirchliche Gemeinschaft sei weitaus mehr als bloße Gesprächsgemeinschaft. Die Überzeugungen der Glaubensgemeinschaft bilden für R. die notwendige Voraussetzung für ein Verständnis der biblischen Texte als Offenbarung. Nur die Verantwortung gegenüber der um­fassenden communio sanctorum verhindere die »Selbstauflösung der Theologie in Religionswissenschaft« (47). Werde die Exegese auf historische Forschung eingegrenzt, führe dies »zu einer unbefriedigenden Beschränktheit« (48). Angemessene Applikation des Textes sei so unmöglich. Vielmehr müsse akzeptiert werden, dass eine »überlegene Einsicht« existiere, »deren Urteil Vorrang vor dem eigenen hat« (60).
Die Aufsätze im Zentrum des Bandes führen diese nicht ohne kontroverstheologischen Elan gezogenen Linien in verschiedene Richtungen weiter: Auf »Geist und Buchstabe. Zur Situation der östlichen und westlichen Exegese« (63–78), »Biblische Metaphorik und Symbolik« (79–98), »Biblische und nachbiblische Allegorese« (99–118), »Allegorese und Metaphorik« (119–152) folgen Überlegungen zur »Opferung Isaaks im Genesiskommentar des Jesuiten Benito Perera« (153–184), zu »Richard Simons biblischer Hermeneutik« (185–217) und die Einleitung weiterführende Gedanken zu »Prinzipien der biblischen Hermeneutik und ihr Wandel unter dem Einfluß der Aufklärung« (219–275). Die vier abschließenden Aufsätze befassen sich mit »Aufruhr um Isenbiehl oder: Was hat Jes 7,14 mit Jesus und Maria zu tun?« (277–330), »Drei Präfigurationen Jesu: Jesajas Gottesknecht, Platons Gerechter und der Gottessohn im Buch der Weisheit« (331–353), »Wahrheit und literarische Arten der biblischen Erzählung« (355–371) und mit der Frage »Hat die spirituelle Exegese eine eigene Methode?« (373–388).
Nicht nur der letzte Beitrag liefert ein engagiertes Plädoyer für eine allegorische, symbolische Textauslegung, die die regula fidei als Richtschnur im Auge behält; denn R. ist sich sicher, »daß nur eine Verbindung von literaturwissenschaftlicher, historischer und theologischer Betrachtungsweise die Bibelexegese aus ihrer derzeitigen Wirrnis, Dürre und Belanglosigkeit führen kann« (V). Mit dieser Einschätzung der gegenwärtigen Lage mag R. nicht alleine stehen, ja er bekäme wohl auch Beifall von den Anhängern einer stärker kulturwissenschaftlich ausgerichteten Deutungsperspektive in den exegetischen Fächern selbst. Doch sind seine Überlegungen kaum dazu angetan, die notwendigen Auseinandersetzungen um den Status von Hermeneutik, Wirkungsgeschichte und Bibelkritik konstruktiv zu bereichern. Dies liegt vor allem an einem nicht ohne Stolz präsentierten Rezeptionsdefizit: Wer, wie R., die katholischen und protestantischen Hermeneutikdebatten der letzten 40 Jahre, ihre diskursiven Konstellationen wie ihre Ergebnisse, nicht näher zur Kenntnis nimmt, der wird auch das zumeist sehr beachtliche Reflexionsniveau eben dieser Kontroversen schwerlich erreichen.