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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

29-31

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Frye, Northrop

Titel/Untertitel:

Der Große Code. Die Bibel und Literatur. Aus dem Engl. v. P. Seyffert. Hrsg. v. P. Tschuggnall.

Verlag:

Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2007. 271 S. 8° = Im Kontext. Beiträge zu Religion, Philosophie und Kultur, 27. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-902537-05-8.

Rezensent:

Helmut Utzschneider

Das 1982 entstandene Buch des 1991 verstorbenen, im englischsprachigen Raum hochangesehenen Literaturwissenschaftlers der Victoria University of Toronto und Pastors der United Church of Canada, Northrop Frye, galt unter literaturwissenschaftlich interessierten Alttestamentlern und Alttestamentlerinnen lange als eine Art »Geheimtipp«. Da es schon im englischen Original für »native speak­ers« anerkanntermaßen schwer zu lesen ist, könnte die nun, nach 25 Jahren, vorliegende Übersetzung ins Deutsche (siehe dazu unten) erneut Interesse an dem ungewöhnlichen Werk wecken, zu dem F. übrigens noch eine Art Fortsetzung (Words with Power, Being a Second Study of the Bible and Literatur, 1990) verfasst hat.
F. stellt es als »Untersuchung der Bibel aus der Perspektive eines Literaturkritikers« (5) vor und sieht diese durch den enormen Einfluss motiviert, den die Bibel auf die westliche Literatur ausgeübt habe und immer noch ausübe. Seine wichtigsten Gewährsleute in Literatur und Dichtung sind Shakespeare, Milton und immer wieder William Blake, von dem auch der Titel des Werkes entliehen ist (vgl. 10). Der Weg, auf dem F.s Buch diesem Einfluss nachspürt, führt allerdings von der nichtbiblischen Literatur eher weg. Im Kern geht es um die Darstellung »einer erzählerisch und bildlich einheitlichen Struktur der Bibel« (6; engl. »unified structure of narrative and imagery in the Bible«, XIII). Denn als eine solche einheitliche Struktur habe sie das »westliche Vorstellungsvermögen« (engl. »Western imagination«, XIII) beeinflusst.
F. entwirft diese »einheitliche Struktur« mit Hilfe eines Sets von vier Grundbegriffen, die er im ersten Teil des Buches (»Die Ordnung der Wörter«, 19 ff.) in je einem Kapitel (Sprache I, Mythos I, Metapher I, Typologie I) entwickelt. Unter dem Stichwort »Sprache« postuliert er ein universalhistorisches Phasensystem der Sprache, die sich von der metaphorischen Phase der Mythen zur metonymischen der Metaphysik und schließlich zur deskriptiven der neuzeitlichen Wissenschaft entwickelt habe. Dazu komme die genuin biblische Sprachform des Kerygmas bzw. der Offenbarung (46). Den Begriff des Mythos entwickelt er vom aristotelischen Verständnis her als Erzählung; es handelt sich dabei aber um Erzählungen, die »das Universelle in der Geschichte« (66) vermitteln. Den Begriff der »Metapher« versteht er als reines Syntagma von Worten ohne außersprachlichen Bezug: »Die Bibel bedeutet wörtlich nur das, was sie sagt.« (82 f., Hervorhebung H. U.), und deduziert daraus ein Verständnis der Bibel als »einer einzigen, gigantischen, komplexen Metapher« (86), die ihre innere Sinnstruktur durch bedeutsam wiederholte Bilder erhält. Diese Struktur ist nicht statisch, sondern enthält die Vision einer »aufwärtsstrebenden Metamorphose« (99). Die Dynamik der biblischen Metaphernwelt realisiert sich schließlich in der »Denkart und Sprachfigur« der Typologie (103), die die biblischen Mythen und Metaphern in einem geschichtlichen Prozess anordnet und damit das prozesshaft teleologische Denken gewissermaßen zur Welt gebracht hat.
Im zweiten Teil des Buches (»Die Ordnung der Typen«, 129 ff.) wendet F. die Grundbegriffe auf die Bibel an, und zwar in umgekehrter Reihenfolge der Kapitel des ersten Teils. Der typologisch gedachte Prozess (»Typologie II, Phasen der Offenbarung«) verläuft über sieben Stadien von der »Schöpfung« über die »Revolution« (Väter und Exodus), das »Gesetz« (Sinai), die »Weisheit«, die »Prophezeiung«, das »Evangelium« bis zur »Apokalypse«. Im Kapitel »Metapher II Bilder« ordnet F. fünf biblischen Bildgruppen (der paradiesischen, der des Hirtenlebens, der bäuerlichen, der städtischen und der des menschlichen Lebens selbst, vgl. 170) komplexe Strukturen von Kategorien und Klassen zu, die einerseits (in ihrem apokalyptischen Aspekt) eine ideale Welt bilden (näherhin: »... die Vision, das Modell, den Entwurf, welche der menschlichen Energie Richtung und Zweck verleihen ...«, 170) und andererseits (in ihrem dämonischen Aspekt) eine Art Gegenentwurf dazu darstellen. Im Kapitel »Mythos II Erzählung« zeichnet F. die biblische Erzählung als eine Folge von Auf- und Abstiegen, anders gesagt: von Komödien und Tragödien, nach (199). Im Ganzen gesehen bildet die Bibel eine Art göttlicher Komödie, in der »der Mensch ... am Anfang der Genesis den Baum und das Wasser des Lebens verliert und sie am Ende der Offenbarung zurückbekommt« (197). Hier sind außersprachliche Bedeutungen nicht mehr tabu. Z. B. kann man »die Erzählung der Bibel als eine Reihe von Ereignissen im menschlichen Leben ansehen« (220).
Im letzten Kapitel (Sprache II Rhetorik) kommt F. noch einmal auf das Problem der Sprache zurück und fokussiert es auf die biblische Sprache. Als ihr wichtigstes »Prinzip« hebt er hervor, dass »jeder (scil. biblische) Text der Typ seiner eigenen Lektüre ist. Sein Antityp beginnt im Kopf des Lesers, wo der Text ... sich als ein langer und komplizierter dialektischer Prozess entfaltet.« (255) Wir würden dies die Leserorientierung der biblischen Sprache nennen.
F.s Werk über die Bibel als den »Great Code« nimmt einerseits moderne poetologische und ästhetische Denkformen durchaus auf, andererseits greift es auf ontologische Muster zurück, die man so in den 50er und 60er Jahren des 20. Jh.s vermuten würde. In der pragmatisch und kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft ebenso wie in der mehrheitlich historisch ausgerichteten Bibelexegese der Gegenwart nimmt sich sein Ansatz jedoch erratisch, ja fast exotisch aus. Kritisch anzumerken ist auch, dass die im Großen und Ganzen stupende Bibelkenntnis F.s bisweilen von grotesken Fehlurteilen begleitet ist, so etwa, wenn er von einem »Bund beim brennenden Dornbusch« (138) spricht oder wenn er behauptet, dass die »Auffassung von Weisheit in der Bibel ... mit der Individualisierung des Gesetzes« (146) beginnt. Insgesamt jedoch verdient F.s Entwurf nach wie vor Aufmerksamkeit, weil er die Bedeutung der Bibel für die Weltkultur und -literatur nicht nur in mehr oder minder umfangreichen Materialsammlungen zur Rezeptionsgeschichte dokumentiert, sondern den Versuch gewagt hat, diesen Zusammenhang als theoretisches Problem zu formulieren. In dieser Hinsicht ist und bleibt F.s Buch auch eine Herausforderung an die Bibelwissenschaft und die Theologie.
So ist es gewiss verdienstvoll, dass das Buch nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Leider jedoch lässt die Übersetzung immer wieder sehr zu wünschen übrig. Dies gilt sowohl für die Wiedergabe englischer Idiome als auch für fachliche Termini. So z. B. wird die Wendung »A scholarly book was out of question.« (8, vgl. engl. Original, XIV) mit »Ein akademisches Buch stand außer Frage ...« wiedergegeben. Richtig wäre: »Ein wissenschaftliches Buch kam nicht in Frage ...«. Den Vogel schießt »der Herr der Hostien« (236) ab, der für »The Lord of Hosts« im englischen Original (208) zu stehen kommt. Es führt also trotz der Übersetzung am Original kein Weg vorbei.