Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

27-29

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Spickermann, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Germania Inferior. Religionsgeschichte des römischen Germanien II.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XXIV, 392 S. gr.8° = Religion der Römischen Provinzen, 3. Geb. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-149381-2.

Rezensent:

Peter Herz

Der Band ist identisch mit dem 2. (erweiterten) Teil einer Osnabrü­cker Habilitationsschrift, wobei der die Provinz Germania su­perior betreffende Teil bereits 2003 als Band 2 der Reihe publiziert wurde. Diesen Band sollte man möglichst griffbereit haben, denn für eine Reihe von wichtigen religiösen Erscheinungsformen wie der Heeresreligion oder des Kaiserkultes finden sich die entscheidenden Ausführungen dort und die Ergebnisse dieses Bandes werden mehrfach für Vergleiche herangezogen (vgl. etwa 42–44 u. ö. zum kultischen Erscheinungsbild Kölns im Vergleich mit Mogontiacum).
Der angestrebte Charakter eines Handbuches bestimmt auch die Binnengliederung des Werkes, das zunächst eine grobe zeitliche Gliederung in II. Eroberungsphase (24–77), III. Phase der Konsolidierung der römischen Herrschaft (78–137), IV. Phase der intensiven Romanisierung (138–244) und schließlich V. Phase der Auflösung (245–258) aufweist. Einleitung (1–23) und ein knappes Resümee (268–282) rahmen diese Hauptteile ein. Diese präsentieren das Material in der Regel systematisch aufgegliedert nach Kultplätzen (in allen Teilen), nach Weihdenkmälern bzw. Weihinschriften, Bildzeugnissen und den Kulten der Gebietskörperschaften (nur in Hauptteil IV).
Die materiale Grundlage der Untersuchung wird weitgehend von der Archäologie geliefert, S. greift also auf mehr oder weniger gut nachgewiesene Kultplätze, Inschriften und Bodenfunde wie Keramik oder Knochenreste etwa von Tieropfern zurück. Alle religiös relevanten Zeugnisse, die etwa vegetabilischer Natur waren, fehlen, was auch für alle Hinweise auf das kultische Zeremoniell oder die religiösen Überzeugungen der Gläubigen gilt. Hier kann selbst ein gewissenhafter Wissenschaftler wie S. kaum über das Niveau mehr oder weniger guter Hypothesen hinauskommen. Bei der Aufarbeitung des Materials profitierte S. von einer von ihm geleiteten Ar­beitsgruppe, die in Regionalstudien das zerstreute Material zu­sam­mentrug (vgl. etwa die Beiträge von Biller und Steenken).
S. liefert eine Summe von Forschungsaktivitäten, die sich seit dem frühen 19. Jh. der Erforschung der religiösen Aktivitäten im niedergermanischen Gebiet widmeten. Damit ist auch die Hauptproblematik dieses Buches angesprochen, denn viele der vorgestellten Kultplätze sind alt, sie wurden oft eher zufällig entdeckt und kaum nach modernen Standards ausgegraben oder publiziert. In solchen Fällen beweist S. seine Qualitäten als gewissenhafter Chronist der noch rekonstruierbaren Befunde, der klar zwischen den Fakten und den möglichen Interpretationen scheidet.
Breiten Raum nimmt die Forschungsdiskussion (61–77) zu der wohl für Niedergermanien typischsten religiösen Erscheinungsform, den Kulten der inzwischen rund 80 durch ihre Epiklesen unterschiedenen Matronentriaden, ein. Bei einigen Kultbeinamen, gerade wenn sie nur einmal belegt sind, ist sich der Rezensent allerdings nicht sicher, ob es sich nicht lediglich um unterschiedliche Schreibweisen desselben Namens handelt. Immerhin stand man vor dem Problem, Namen aus einer fremden Sprache ohne Schriftform in die lateinische Phonetik und Graphie zu übertragen. Dies wird deutlich im Falle von Vatviae und Vatvims, die S. als unterschiedliche Matronentriaden versteht (298). Vatvims dürfte allerdings lediglich ein germanisch gebildeter Dativus Pluralis zu Vatviae sein. Da wir auch die lateinische Form Vatviis haben, ist es auf jeden Fall ein interessantes Zeugnis für die Sprachgeschichte dieser Region.
Ein Teil der Matronenkulte, die an Personengruppen (curiae) anknüpften, dürfte durch die Verlagerung der Ubier aus dem rechtsrheinischen Raum eingewandert sein (so 65). Der Rezensent stimmt einer solchen ›Kultverlagerung‹ ausdrücklich zu, hätte sich aber dennoch gewünscht, dass S. etwas zur möglichen Methodik einer solchen Verlagerung gesagt hätte. Gerade wenn es um die Verehrung von Ahnmüttern einer Gruppe geht, müsste an sich ein konkreter Anknüpfungspunkt vorhanden gewesen sein. Im griechischen Be­reich kennen wir eine Translation von Heroenkulten durch die Verlagerung der sterblichen Überreste eines Heros (etwa Orestes von Tegea nach Sparta), doch wie könnte sich in diesen Fällen eine Kultverlagerung vollzogen haben? Müssen wir uns eine solche Kultwanderung auf einer rein spirituellen Ebene vorstellen (etwa eine Aufforderung an die Ahnen, ihren Nachkommen in eine Heimat zu folgen) oder wurden auch konkrete Kultobjekte transferiert? Der Rezensent muss gestehen, dass er selbst noch auf der Suche nach einer überzeugenden Erklärung ist, aber vielleicht hat S. ja bei Gelegenheit eine passende Idee.
Exemplarisch für die Probleme der Aufarbeitung ist der Fall der Göttin Nehallenia (235–240), deren Erforschung erst seit 1970 durch das Fundmaterial aus einem in der Oosterschelde versunkenen Heiligtum in Schwung kam. Solange es sich nur um die Interpretation der dabei gefundenen lateinischen Weihinschriften handelt, bewegt sich die Forschung auf sicherem Boden, was sich allerdings bereits bei der Bildsprache der Stelen ändert. Das vorsichtig formulierte Resümee »dürfte es sich um eine polyvalente Schutzgottheit eines Stammes gehandelt haben, die für alle Bereiche des täglichen Lebens, aber auch die Toten zuständig war – dafür spricht die häufige mit ihr verbundene Hundedarstellung – und sich auch der Seefahrt annahm« (236) ist symptomatisch für die Erforschung einer religiösen Welt, deren Glaubensregeln für uns auch weiterhin unbekannt bleiben.
Im Anhang finden sich eine verdienstvolle Zusammenstellung der tagesdatierten Votive aus ganz Germanien (283–293) sowie eine Auflistung der bisher bekannten Matronen-Epiklesen (294–298). Das Literaturverzeichnis (299–332) ist reichhaltig und solide gefertigt und entspricht ebenso wie die Indizes dem angestrebten hohen Standard der Reihe.
In vielen Dingen kann eine solches Buch, das so sehr von den Ergebnissen der Archäologie lebt, natürlich nur den Charakter einer Zwischenbilanz besitzen, da ein Großteil der verarbeiteten Informationen aus noch laufenden Ausgrabungen oder unpublizierten Fundbeständen stammt, doch als verlässliche Summe des bisher erreichten und wohl auch allgemein akzeptierten Forschungsstandes wird es auf lange Zeit seinen festen Platz haben.