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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

23-25

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hermsen, Edmund

Titel/Untertitel:

Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bearb. v. T. Walter.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2006. XI, 289 S. gr.8°. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-412-05906-4.

Rezensent:

Martin H. Jung

Der Titel des Buches weckt falsche Erwartungen. Sein Vf. stellt nicht die Geschichte der Kindheit dar, und erst recht nicht vom Mittelalter bis in die Neuzeit reichend. Zwar finden sich Kapitel über »Kindheit im christlich-abendländischen Mittelalter« und »Kindheit in der Frühen Neuzeit Europas«, die jedoch ebenfalls die durch die Kapitelüberschriften gehegten Erwartungen nicht erfüllen, aber überwiegend beschäftigt sich der Vf. mit forschungsgeschichtlichen Fragestellungen: »Die Entdeckung der ›Geschichte der Kindheit‹«, »Entwicklung der Pädagogik«, »Die wissenschaftliche Erforschung der Kindheit«, »Die Herausbildung der Entwick­lungspsychologie vor dem Hintergrund von Kindheitsgeschichte und Religionspsychologie«, »Psychoanalyse in ihrer Bedeutung für Kindheitsgeschichte und Religionspsychologie«. Wer sich für diese Fragen interessiert, findet in dem Buch einiges Interessante, allerdings eingebettet in einen eher unübersichtlichen und über weite Strecken Literatur referierenden Argumentationsgang. Wie ein roter Faden durchzieht das Buch eine erhellende und kritische Auseinandersetzung mit Philippe Ariès, die diesen kontextualisiert.
Die Studie ist eine religionswissenschaftliche Habilitationsschrift (Universität Marburg) und versteht sich auch als dezidiert religionswissenschaftlicher Beitrag. Doch auch der religionswissenschaftliche Anspruch wird nicht eingelöst. Das Buch könnte genauso von einem Religionspädagogen geschrieben worden sein. Dabei standen gute Einsichten und Überlegungen am Ausgangspunkt des Weges. In seiner Einleitung weist der Vf. darauf hin, dass sich die Religionswissenschaft bislang nicht für Kindheit interessiert und umgekehrt die Kindheits- und Sozialisationsforschung anderer Wissenschaftsdisziplinen (mit Ausnahme der Theologie/ Religionspädagogik, so wird man konstatieren dürfen) sich nicht für den Faktor Religion interessiert (1). Als Forschungsaufgabe wird benannt, »zu rekonstruieren ..., wie konkrete Kindheitserfahrungen religiöse Konzeptionen mitgestalten und wie Kindheit ihrerseits durch diese religiöse Gestaltung geformt wird« (3, im Original durch Kursivschrift hervorgehoben). Außer dieser programmatischen, uneingelösten Zielbestimmung der ganzen Ar­beit finden sich weitere interessante, aber unbewiesene Forschungshypothesen, die Diskussionen und Forschungen anregen können, aber den Theologen und Kirchenhistoriker auch zu kritischen Nachfragen provozieren. So vermutet der Vf. einen Zusam­menhang zwischen der Oblation und »der ›Entdeckung‹ der Kindheit und des Individuums« (207) und stellt die zu Unrecht als fest stehendes Untersuchungsergebnis formulierte These auf: »An der religiösen Sozialisation war die christliche Kirche bis in die intims­ten menschlichen Lebensbereiche hinein beteiligt.« (207) Interessant ist auch folgende Überlegung: »Eine Veränderung der gesellschaftlich gültigen Form von Kindheit führte zu einem Wandel im religiösen Vorstellungsbereich, der dann wiederum auf die Kindheit zurückwirkte.« (206) Herausfordernd klingt ferner die These, im 17. Jh. seien »die pädagogischen Konzeptionen und die erzieherische Praxis« in der »katholischen Reformbewegung« (Jansenis­mus), in der protestantischen Orthodoxie und im Pietismus im Grunde dieselben gewesen (125) und »Kirchen und Prediger« aller Konfessionen hätten im 16. und 17. Jh. versucht, »Erwachsenen wie Kindern schwerste Ängste einzuflößen« (123). Direkt zum Widerspruch fordert die Behauptung auf, im Mittelalter sei es »allgemein üblich« gewesen, Kinder gleich nach der Geburt zu taufen (44). Das Gegenteil war der Fall. Im Mittelalter wurde im Widerspruch zur Lehre der Theologen die Taufe von den Familien nicht besonders ernst genommen und mitunter unterlassen. Erst unter dem Einfluss der Bettelorden und definitiv im 16. Jh. unter dem Einfluss der Reformation und deren Auseinandersetzung mit den Taufgesinnten setzte sich die Taufe sofort nach der Geburt – oder manchmal sogar noch vor der Geburt – durch.
Kindheit, Religion, Mittelalter, Neuzeit – diese Themenstichworte markieren auch vom Vf. selbst genannte europäische Di­mensionen und automatisch überkonfessionelle und – zumal bei einem religionswissenschaftlichen Forschungsansatz – religionsvergleichende Perspektiven, denn im Europa des Mittelalters und der Neuzeit lebte eine ansehnliche jüdische Minderheit, in deren Religion Erziehung einen hohen Stellenwert hatte (wohl höher als im Christentum) und in deren Erziehung religiöse Faktoren eine starke Rolle spielten (wahrscheinlich stärker als im Christentum). Doch auch diese spannenden Dimensionen des Themas werden im Gang der Untersuchung nicht aufgegriffen. Das Thema Judentum wird nur kurz gestreift (10.205) und nicht als Herausforderung erkannt, der man sich stellen müsste.
Blickt man in die Anmerkungen, so stellt man fest, dass kaum eigenständige Quellenstudien betrieben, sondern überwiegend aus der Sekundärliteratur geschöpft wurde. Dies gilt gerade für die Kapitel, in denen etwas Konkretes zur Kindheit im Mittelalter und in der Neuzeit gesagt wird. Hier werden eigentlich nur altbekannte Texte und Informationen referiert. Und dabei hätte es Möglichkeiten zu vertiefender Quellenarbeit durchaus gegeben, denn relevant sind für das Thema ja nicht nur Texte, die explizit von Kindheit handeln (wovon es in der Tat nicht viele gibt), sondern letztlich sämtliche Quellentexte der Epoche, die man allerdings systematisch nach Aussagen zum Thema Kindheit durchsuchen müsste. Außerdem lassen sich Bilder, zum Beispiel Epitaphe, auswerten, und auch die Ergebnisse der Mittel­alter-Archäologie wären für eine umfassende Behandlung des Themas heran­zuziehen. Zugegeben werden muss freilich, dass damit Horizonte markiert sind, die ein Einzelner allein kaum abzuschreiten vermag. Auf eine weitere – wie er selbst sagt, »nicht ausgeschöpfte« – Quellengattung weist der Vf. ausdrücklich hin: Kinderprozessakten, zum Beispiel aus Hexenprozessen (97).
Alles in allem ist das Buch nicht uninteressant, streckenweise sogar anregend, aber unter wissenschaftlichen Aspekten doch enttäuschend. Benutzerfreundlich ist die Ausstattung mit Personen- und Sachregistern und einem ausführlichen, für eigene Arbeiten am Thema hilfreichen Literaturverzeichnis.
Eine Rezension hat ohne Ansehung der Person zu erfolgen. Im vorliegenden Fall ist allerdings zu bedenken, dass der Vf. das Werk zwar abschließen und als Habilitationsschrift einreichen konnte, die Drucklegung jedoch nicht mehr erlebt hat. Edmund Hermsen (geb. 1952) schloss sein Habilitationsverfahren im Jahre 1999 in Marburg ab und war von 2002 an Privatdozent für Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg, verstarb aber im Jahre 2006. Möglicherweise sind auch die geschilderten Defizite durch Krankheitsumstände und den drängenden Wunsch, das Werk fertigzustellen, bedingt. Der Medizinhistoriker Tilman Walter hat die Drucklegung betreut.