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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

195–197

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Feige, Gerhard u. Ulrich Kühn

Titel/Untertitel:

Wege der Kirchen im Umbruch der Gesellschaft. Eine ökumenische Bilanz. Hrsg. im Auftrag des Ökumenisch-theologischen Arbeitskreises.

Verlag:

Leipzig: Benno; Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1998. 184 S. 8. ISBN 3-7462-1236-7 u. 3-374-01666-9.

Rezensent:

Günter Krusche

Seit 1966 existierte in der ehemaligen DDR der "Ökumenisch-theologische Arbeitskreis", der sich aus katholischen und evangelischen Hochschullehrern zusammensetzte und sich vorrangig als ein Forum des Gedankenaustauschs verstand, jedoch auch einige Publikationen zu ökumenisch-theologischen Themen erarbeitete (s. Anhang 2).

Die vorliegende Veröffentlichung dokumentiert die Arbeitsphase von 1991 bis 1996, in der die Erfahrungen der Kirchen in der DDR und in der Umbruchssituation nach der Wende im Vergleich reflektiert wurden. Dabei kamen dann schon die neuen politischen und ökonomischen Gegebenheiten in den Blick. Die einzelnen Beiträge sind, mit einer Ausnahme, im vollen Wortlaut dokumentiert; die sich jeweils anschließende Diskussion ist in Kurzfassung wiedergegeben. Der Arbeitskreis galt in jenen Jahren bei vielen ökumenisch Gesinnten als ein Hoffnungszeichen im Hinblick auf wachsende ökumenische Gemeinschaft und Gemeinsamkeit des Zeugnisses in einer atheistischen Umwelt. Deshalb sieht man dieser Publikation mit hohen Erwartungen entgegen.

Aus dem November 1991 stammen einige Kurzbeiträge, die zu Recht als "vorläufige Wahrnehmungen der veränderten Situation" (11 ff.) bezeichnet werden (M. Ullrich, F. G. Friemel, T. Holtz, U. Kühn). Auch wenn einige Einschätzungen der Situation und der Rolle der Kirchen inzwischen durch den Gang der Ereignisse überholt sind, wird schon an den Kurzbeiträgen erkennbar, wie sich die Beurteilung des Weges der beiden Kirchen zur Zeit der DDR im Rückblick zu differenzieren begann und manche Unterschiede klarer benannt wurden als in den Jahren der gemeinsamen Herausforderungen zuvor. Vollends in der Beurteilung der neuen Gegebenheiten gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Konfessionen.

Im Teil II werden "Theologische Grundoptionen im Blick auf die Verantwortung der Kirchen in der Gesellschaft" (27 ff.) vorgestellt. Martin Seils übernahm die Darstellung der lutherischen Zweireichelehre (27 ff.). Lothar Ullrich stellt die katholischen lehramtlichen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft dar, wobei vor allem die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (GS) von 1965 eine herausragende Rolle spielt: "Im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrung" (39 ff.). In allen katholischen Beiträgen wird immer wieder auf GS zurückgegriffen. Dabei wird das große Gewicht päpstlicher Verlautbarungen gegenüber den "Denkschriften" der EKD evident.

Im Teil III wird "Wirtschaftsethik im Umbruch der Gesellschaft" (57 ff.) aus katholischer und evangelischer Sicht referiert. W. Kerber SJ beschreibt zunächst die wesentlichen Punkte der katholischen Soziallehre, "Christ und Wirtschaft aus katholischer Sicht" (57 ff.), um dann in kritischer Perspektive den Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeit und Ethik (75 ff.) zu erörtern. Der bekannte Bonner Sozialethiker Martin Honecker stellt "Fragestellungen und Aufgaben wirtschaftlicher und politischer Ethik" (87 ff.) aus protestantischer Sicht vor. Er hebt besonders die Bedeutung der politischen Rahmenbedingungen für die Wirtschaftsethik hervor. In der Denkschrift der EKD zum Thema, "Gemeinwohl und Eigennutz", sieht er im Unterschied zu GS das Freiheitsverständnis als maßgebende Größe an (95 ff.). Er fordert politische Kontrolle in einer demokratischen Kultur, damit die Macht des Erfolgs sich nicht verselbständige (96).

Der wichtigste Teil, der eigentlich erst den Titel des Buches rechtfertigt, ist der vierte: "Kirchliches Selbstverständnis im Wandel" (105 ff.). Nach einer kirchensoziologischen Beschreibung der "Konfessionelle(n) Differenzen in der politischen Einstellung und im gesellschaftlichen Verhalten der Christen in der DDR und in den neuen Bundesländern" von Detlef Pollack, leider nur in Kurzfassung (105 f.), referiert Ulrich Kühn "Theologische Aspekte von Entscheidungen der evangelischen Kirchen in der DDR im Zeitraum zwischen 1950 und 1989" (109ff.). Er beschreibt den Weg der Kirchen in der DDR von der "Situation des Kirchenkampfes der 50er Jahre" (110 ff.) bis zur Wende. Das Anliegen einer "Zeugnis- und Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft" interpretiert er positiv als Versuch einer "Einwanderung" in die Umwelt und nicht als "Weg in die Anpassung" (Besier). Eine differenzierte, selbstkritische Darstellung des Weges der katholischen Kirche bietet Bernhard Dittrich unter der Fragestellung: "Gibt es theologische Einflüsse auf das Leben der katholischen Kirche in der DDR?" (121 ff.). Er setzt bei der Definition der katholischen Kirche als "Kirche in einer doppelten Diaspora" ein: als Minderheit in einer überwiegend evangelischen Bevölkerung, umgeben von einer übermächtigen atheistischen Gesellschaft (121). Er stellt die Geschichte der katholischen Kirche "unter theologischem Aspekt" (122 ff.) in folgenden Phasen vor:

a) Die Situation des Kirchenkampfes (1949-1960), b) Die Kirche auf Verweigerungskurs - Die Ära Bengsch (1961-1979), c) Der Aufbruch der katholischen Kirche in der DDR zu größerem gesellschaftlichen Engagement (1980-1990). Aufschlußreich ist die kritische Aufarbeitung der Spannungen um die Rezeption von GS und des Ringens um ein stärkeres gesellschaftliches Engagement auf der Dresdener Pastoralsynode. Erst allmählich öffnete sich die katholische Kirche in den achtziger Jahren in Richtung auf eine Annahme der DDR als "Heimat" (Bischof Wanke). Diese Wendung bestimmte das Katholikentreffen in Dresden 1987 entscheidend und ermöglichte die Mitarbeit am Konziliaren Prozeß. Für das Selbstverständnis der katholischen Kirche in der DDR spielte die Formel "Wir sind Weltkirche, nicht nur Landeskirche" (130) eine entscheidende Rolle.

Die Bedeutung der katholischen Ekklesiologie wird in einem erhellenden Beitrag des evangelischen Theologen Heiko Franke unter der Überschrift "Ortskirche, nicht Landeskirche" (133ff.) dargestellt. Die Tatsache, daß die Katholiken ihr Oberhaupt stets außerhalb der DDR in Rom wußten und sich daher als Teil einer größeren Einheit, der "Weltkirche" verstanden, ist von Anfang an bestimmend gewesen. So übernahm die katholische Kirche nie die Zweistaatentheorie der DDR aus ekklesiologischen Gründen. Daraus erklärt sich auch die lange praktizierte "Strategie des ’Überwinterns’" (140), die relativ spät und erst nach innerkirchlichen Kontroversen aufgebrochen wurde. Das Hirtenwort der Bischöfe "Katholische Kirche im sozialistischen Staat" vom 8. September 1986 leitete die Wende ein. Diese überaus genaue Studie verhilft dem evangelischen Leser zu einem vertieften Verständnis der katholischen Kirche in der DDR; sie erklärt rückblickend manche Irritation, die sich für evangelische Weggefährten in den Jahren der DDR ergab.

Den Abschluß des Buches bildet eine Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese aus der Feder des früher in der DDR lebenden Thomas Gertler SJ: "Glauben in Zeiten der Gottlosigkeit. Wie sich die Deutung der Säkularisierung verändert"(161 ff.). Gertler setzt mit der Feststellung ein, daß die DDR als ein Beispiel für die totale Säkularisierung gilt, wo nicht nur die Kirche zur Minderheit schrumpfte, sondern eine "wissenschaftliche Weltanschauung" das Christentum abgelöst zu haben schien. Aber die Säkularisierungsthese selbst bedarf der Neufassung: "Segmentierung und gesellschaftliche Differenzierung statt Säkularisierung" (164). Mit diesen Stichworten nimmt Gertler die neueren Erkenntnisse der Säkularisierungsdebatte auf und wendet sie auf die gegenwärtige Situation an.

Ich wünsche dem Buch, dessen Inhalt hier nur kurz angerissen werden konnte, viele Leser vor allem aus der ehemaligen DDR, weil es - besonders im letzten Abschnitt - Erhellendes zur Deutung von gelebten Erfahrungen beiträgt, aber auch hilft, aus diesen Erfahrungen Schlüsse für den weiteren Weg der Kirchen in einer sich rapide verändernden Gesellschaft zu ziehen.