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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1412–1414

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wasmuth, Jennifer

Titel/Untertitel:

Der Protestantismus und die russische Theologie. Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 387 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 113. Geb. EUR 69,90. ISBN 978-3-525-56340-3.

Rezensent:

Reinhard Slenczka

Diese Erlanger Dissertation liefert eine Momentaufnahme von dem wechselvollen und oft spannungsvollen Verhältnis russischer orthodoxer Theologie und deutscher protestantischer Theologie. Auf beiden Seiten begegnen bis heute manche Vorurteile und Klischees wie etwa starker Ritualismus auf der einen und ungläubiger Rationalismus auf der anderen Seite. Das schließt allerdings nicht aus, dass es zu allen Zeiten und so auch seit der Reformation lebendige kirchliche Begegnung und, damit verbunden, theologischen Austausch gegeben hat und bis heute gibt. Seit der Mitte des vorigen Jh.s ist dazu vieles erforscht worden. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist noch mehr aus Bibliotheken und Archiven zugänglich geworden, was die Vfn. bei einem einjährigen Studienaufenthalt in Sankt Petersburg auswerten konnte.
Der Rahmen der Arbeit ist zeitlich und sachlich eng gefasst. Ausgewertet werden drei Zeitschriften der Geistlichen Akademien von Kiew, Moskau und Sankt Petersburg in dem Zeitraum von 1892 bis 1917. Diese 25 Jahre sind in vieler Hinsicht bewegend für die orthodoxe Theologie und Kirche in Russland. Es ist die Zeit des sozialen und politischen Umbruchs. Auch von Theologie und Kirche wird versucht, die Anliegen der gesellschaftspolitischen Bewegungen aufzunehmen.
Dazu gehören die Gespräche von Kirche und Intelligencija in den »Petersburger religiös-philosophischen Versammlungen« von 1902 bis 1903, die Versuche zum Aufbau einer kirchlichen Sozialarbeit sowie zur Reform des Staatskirchentums durch stärkere Beteiligung von Laien. Durch die Revolution von 1917 und den militanten Atheismus der Bolschewisten wurde zwar die »Theologische Renaissance« um die Jahrhundertwende abgebrochen. Doch wir erleben heute, wie die Probleme und Konstellationen von damals weiterhin fortbestehen. Wenn in der Untersuchung die Begegnung mit dem liberalen deutschen Protestantismus den roten Faden bildet, so braucht man in der gegenwärtigen Situation nur auf die Spannungen zwischen orthodoxer Theologie und Kirche mit dem ÖRK hinzuweisen oder auf das, was in Osteuropa als »EKD-Theologie« verabscheut und abgelehnt wird. Hier gewinnt die Momentaufnahme aus der Zeit um 1900 ihre grundsätzliche Bedeutung.
Wenn in der Bibliographie in dem Zeitraum von 25 Jahren 185 Aufsätze zur protestantischen Theologie nachgewiesen und ausgewertet werden, dann ist das schon nicht nur eine eindrucksvolle Leistung der Vfn., sondern zugleich ein Hinweis auf das beachtliche Interesse russischer Theologen an Austausch und Auseinandersetzung mit der deutschen akademischen Theologie. Dabei ist nicht einmal berücksichtigt, was in der übrigen Fachliteratur inhaltlich und methodisch aufgenommen wird.
Das recht disparate Material wird geschickt und gezielt unter fünf Gesichtspunkten in fünf Kapiteln untersucht:
1. Die bei längeren Aufenthalten in Deutschland erlebte »Wirklichkeit des Protestantismus« wird nach fünf Erfahrungsberichten russischer Theologen geschildert. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei besonders auf die Schule von Albrecht Ritschl sowie auf Adolf von Harnack. Es wird versucht, die Prinzipien von »Freiheit« und »Rationalismus« kritisch zu erfassen, und dabei geht es vor allem um das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie um die historisch-kritische Exegese. Besondere Beachtung finden die theologische Ausbildung an Universitäten sowie die kirchlichen Aktivitäten in Diakonie, Mission und Volksmission.
Im zweiten Kapitel geht es um die »biblische Hermeneutik«. Man muss daran erinnern, dass in jener Zeit die historische Forschung besonders für die Patristik (V. V. Bolotov) in großer, auch im Westen anerkannter Blüte stand. Bei der Schriftauslegung wird aber nun eine Grundsatzfrage angeschnitten, bei der es um das Verhältnis von Heiliger Schrift und Kirche geht. Wie verhält sich die dogmatische Verbindlichkeit in der geistlichen Gemeinschaft der Kirche zu dem Anspruch wissenschaftlicher Allgemeingültigkeit in ihrer geistesgeschichtlichen Bedingtheit? Diese Frage verdient eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie nicht nur die Begegnung mit der orthodoxen Theologie und Kirche betrifft, sondern auch eine bis heute ungeklärte, freilich auch verdrängte Streitfrage innerhalb evangelischer Theologie und Kirche. Aus gutem Grund erwähnt die Vfn. die Überlegungen von Ulrich Luz zur Bedeutung der »Interpretationsgemeinschaft Kirche für die Lektüre der Bibel« (170). Das oft überheblich verwendete leere Argument von Wissenschaftlichkeit ist jedenfalls wissenschaftlich völlig unan­gemessen, wenn dabei die inhaltliche Sachgemäßheit verdrängt wird.
Als drittes Thema richtet sich die Aufmerksamkeit auf »Die Idee des Reiches Gottes«, die in einer Artikelserie von Pavel J. Svetlov (1861–1941) behandelt wird. Gerade im Zusammenhang mit den revolutionären Bewegungen jener Zeit hatte diese Thematik in Russland eine enorme Bedeutung, die auch zu erheblichen theologischen und philosophischen Kontroversen führte. Manches davon wie z. B. N. V. Gogol, F. M.. Dostojevskij, L. N. Tolstoj und V. S. So­lovjev wird aufgenommen. Dass gerade bei diesem Thema die damalige Diskussion um eine »konsequente Eschatologie« (W. Baldensperger, Joh. Weiß, A. Schweitzer) keine besondere Beachtung fand, dürfte daran liegen, dass diese Diskussion aus naheliegenden Gründen in Russland wesentlich intensiver verlief als anderswo. So geht Svetlov ausdrücklich auch auf die sozial-ökonomische Frage ein und befasst sich mit Alternativen zum Kapitalismus. Ge­genüber sozialreformerischen und sozialrevolutionären Programmen betont er, dass es bei der Verkündigung des Reiches Gottes eben nicht um eine Umgestaltung der äußeren Welt gehe, sondern um die innere Erneuerung des Menschen (221 f.).
Nach dem Umfang bildet dieses Kapitel mit 120 Seiten zweifellos den Hauptteil der Untersuchung. Dabei wird mit umfang­reichen Zitaten auch die Auseinandersetzung unter russischen Theologen um dieses Thema vorgeführt. Inwieweit Svetlov als »Ritschlianer der orthodoxen Theologie« zu verstehen ist, mag dahingestellt bleiben. Interessant jedoch ist die Beobachtung der Vfn., dass Svetlov mit keinem Wort auf die zentrale Bedeutung des Reiches Gottes in der orthodoxen Liturgie eingeht.
Ein äußerst schwer zu erfassendes und zu beurteilendes Thema wird im vierten Kapitel behandelt: »Liberale orthodoxe Theologie«. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass »liberal« meistens po­sitiv als fortschrittlich, zeitgemäß und wissenschaftlich bewertet wird. Die gegensätzliche negative Bewertung ist alsdann rückständig, überholt, unwissenschaftlich. Zumal aus der Perspektive deutscher Universitätstheologie wird dabei der Maßstab einer fortschreitenden Entwicklung der Geistesgeschichte angelegt. Dass es jedoch in der theologischen Verantwortung darauf ankommt, dass die Kirche in der Wahrheit bleibt (Joh 15,4; 16,13), wird dabei völlig übersehen und vergessen. Für die Vfn. stellt sich das Problem so dar: »Die Rezeption der liberalen protestantischen Theologie (gewinnt) noch einmal eine eigene Bedeutung. Denn offenbar geschah die Rezeption nicht nur um der konfessionellen Auseinandersetzung willen. Vielmehr entsprang sie einem grundlegenden Orientierungsbedürfnis bezüglich der adäquaten Gestalt christlicher Theologie unter den Bedingungen eines die russischen Verhältnisse grundlegend umgestaltenden Modernisierungsprozesses« (329). In der deutschen akademischen Theologie ist diese provinzielle Sichtweise leider sehr weit verbreitet; doch damit verschwindet jede Einsicht in das geistliche Wesen der Kirche, und man verliert sich in bloßen Richtungsgegensätzen von progressiv und konservativ. Die Unterscheidung von wahrer und falscher Lehre wird durch den Fortschrittsgedanken ersetzt.
Das Ergebnis der Arbeit (Kapitel 5) ist, wie nicht anders zu erwarten, »ambivalent«. Die Akademietheologie ist, wie die Vfn. richtig bemerkt, eine »Minderheitenmeinung« (350). Das liegt natürlich vor allem daran, dass akademische Theologen in der Kirche und vor allem im Verhältnis zur Hierarchie eine völlig andere Stellung einnehmen, als wir das in Deutschland gewöhnt sind.
Die Vfn. meint nun, drei verschiedene Ansätze in der Einstellung zur protestantischen Theologie feststellen zu können: ein »rezeptiv-enzyklopädischer Ansatz«, dem es darum geht, am Stand der Wissenschaft zu partizipieren; ein »konfessionell-polemischer Ansatz«, bei dem, wohl auch dem slawophilen Ansatz folgend, die geistlichen Konsequenzen aus der kirchlichen Trennung zwischen christlichem Osten und Westen hervortreten. Der »konstruktiv-kritische Ansatz« schließlich zielt auf eine Konfessionskunde, bei der es allerdings bis heute einige Schwierigkeiten gibt, insofern historisch beschreibende Theologie und kirchliche Wirklichkeit schwer voneinander zu trennen sind.
An diesem Punkt trifft die Dissertation auf eine Grundsatzfrage, die sie jedoch nicht lösen kann. In der deutschen akademischen Theologie wird weitgehend unreflektiert von einer Trennung zwischen theologischer Wissenschaft und geistlicher Wirklichkeit von Kirche und Glauben ausgegangen. Dieser Gegensatz wird von den orthodoxen Theologen ebenso deutlich empfunden, wie er auf der anderen Seite kaum verstanden wird. In allen osteuropäischen Kirchen jedoch, die durch jahrzehntelange Verfolgung und Unterdrückung hindurchgetragen worden sind (Mt 16,18), hat man erlebt, wie nicht theologische Wissenschaft, sondern das gelebte Bekenntnis den Glauben bewährt und trägt.
In diesem Sinne sollte die Momentaufnahme aus der russischen orthodoxen Theologie zu weiterem Nachdenken anregen. Dazu bietet diese Arbeit viel Material, vor allem auch mit vielen Zitaten, die nicht nur in Übersetzung, sondern auch im russischen Original erscheinen.