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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1409–1412

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schuppe, Florian

Titel/Untertitel:

Die pastorale Herausforderung – Orthodoxes Leben zwischen Akribeia und Oikonomia. Theologische Grundlagen, Praxis und ökumenische Perspektiven.

Verlag:

Würzburg: Augustinus-Verlag bei Echter 2006. 676 S. 8° = Das östliche Christentum. Neue Folge, 55. Kart. 45,00. ISBN 3-7613-0211-8.

Rezensent:

Hans-Peter Großhans

Die orthodoxen Kirchen betonen immer wieder, dass sich ihr kirchliches Leben genauso wenig wie ihre Ekklesiologie insgesamt in einem Lehrschema fassen lasse. Denn es solle dem Geheimnis der irdischen Präsenz des dreieinigen Gottes ebenso gerecht werden wie der Vielfalt und Komplexität individuellen und gemeinschaftlichen Lebens und der damit sich stellenden Probleme.
Florian Schuppe hat sich einem zentralen Ausdruck dieser ekklesiologischen Grundeinsicht orthodoxer Theologie, dem Zu­sam­menhang von Akribeia und Oikonomia im Handeln der Kirche, in seiner von der Katholisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommenen Untersuchung gewidmet. Die Akribeia bezeichnet die strenge und genaue Anwendung der Kanones und gesetzlichen Traditionen gemäß des exakten Wortlauts; mit der Oikonomia ist eine individuell-pastorale Anwendung im konkreten Einzelfall gemeint, wenn es um der Vermittlung des Heils willen für die Betroffenen und die Kirche als Ganze notwendig erscheint, über ein Vorgehen gemäß der Akribeia hinauszugehen oder von ihm abzuweichen. Insofern ergänzen sich beide Prinzipien nicht nur, sondern stehen einander im konkreten Einzelfall antinomisch gegenüber. Wie lässt sich dieses Gegenüber zweier Prinzipien kirchlichen Handelns dann begründen und wie werden beide Prinzipien in der Lehre und in der Praxis orthodoxer Kirchen einander zugeordnet?
Für die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage ergibt sich die Schwierigkeit, derer sich Sch. sehr wohl bewusst ist, dass sich der Zusammenhang von Oikonomia und Akribeia im jeweiligen Einzelfall, beispielsweise in der konkreten Seelsorgepraxis, abspielt und sich nicht einfach aus theologischen Texten oder Dokumenten erschließen lässt. Wohl auch deshalb ist Sch.s Buch ziemlich dick geraten. Allerdings sind die vielen Seiten sinnvoll und höchst lehrreich gefüllt. Der Leser wird sehr gut informiert und von Sch. gelungen in die Welt orthodoxen Denkens und orthodoxen Lebens hineingenommen. Sein selbstgestecktes Ziel, das orthodox-kirchliche Handeln aus dem Gegenüber von Akribeia und Oikonomia in seiner Komplexität verständlich zu machen, um dem Leser bzw. der Leserin damit Zugänge zum orthodoxen Handeln und Denken insgesamt zu eröffnen, kann Sch. als erreicht ansehen.
Die von Sch. geleistete Aufklärung des Verhältnisses von Akribeia und Oikomomia ist vor allem auch für die ökumenischen Gespräche mit den orthodoxen Kirchen hilfreich. Die orthodoxen Kirchen vertreten dort oft rigorose Positionen, die jedoch von den Gesprächspartnern missverstanden werden, wenn sie im Sinne westlichen Rechtsdenkens verstanden werden, weil sie im Blick auf konkrete Fälle und Probleme des Lebens erstaunlich flexibel gehandhabt werden. Die gesamte pastorale Praxis der orthodoxen Kirchen ist von dieser Spannung durchdrungen und Sch. führt viele konkrete Fälle aus der pastoralen Praxis immer wieder als Beispiele an. Für die ökumenischen Gespräche mit orthodoxen Kirchen wäre als Resultat von Sch.s Arbeit zu empfehlen, zukünftig den Zusammenhang von Akribeia und Oikonomia methodisch stärker zu berücksichtigen.
Neben einer Einleitung und einem Anhang am Ende, in dem Sch. – höchst verdienstvoll – offizielle Quellen zum Gegenüber von Akribeia und Oikonimia präsentiert, hat die Untersuchung drei Teile. Im ersten Teil stellt Sch. »theologische Grundlagen des Gegenübers von Akribeia und Oikonomia« dar. Er gibt dazu einen Überblick über die Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung und über neuere orthodoxe Entwürfe zum Thema. Sch. stellt den vorchristlichen Kontext beider Begriffe, ihre biblischen und patris­tischen Grundlagen, wichtige Phasen ihrer geschichtlichen Ausformung sowie eine ganze Reihe zeitgenössischer Konzeptionen dar. Deutlich wird dabei, dass es nicht ein einziges feststehendes orthodoxes Verständnis des Zusammenhangs von Oikonomia und Akribeia gibt. Schon die beiden Begriffe sind keineswegs einheitlich definiert. Zudem ist die Akribeia und ein ihr gemäßes Vorgehen nur selten explizit theologisch reflektiert worden, während eine Abweichung davon gemäß der Oikonomia offensichtlich begründungsbedürftig scheint. Die Abweichung vom strengen Wortlaut der Kanones kann sich im Einzelfall als angemessener als die Akribeia erweisen, weil sie dasselbe Ziel besser erreicht. Denn beide Prinzipien sollen demselben einen Ziel dienen: der Vermittlung des Heils. Beide Prinzipien verstehen sich dabei zugleich als gegenseitiges Korrektiv, damit einerseits die Strenge des Gesetzes nicht zur Gefahr für das Heil und die Abweichung davon nicht zur Willkür führen kann.
Manche westliche Theologen sehen durch diese Konstruktion die Rechtssicherheit gefährdet, weil der subjektiven Urteilskraft im Einzelfall zu viel Raum eingeräumt wird. Für die orthodoxen Kirchen ist demgegenüber die dadurch mögliche größere Toleranz unterschiedlicher Positionen wichtiger als eine rechtliche Vereinheitlichung und allgemeine Normierung kirchlichen Handelns. Aus der Sicht evangelischer Theologie interessant ist die theologische Begründung der kirchlichen Oikonomia. Sie basiert auf dem Verständnis kirchlichen Handelns als Fortsetzung des göttlichen Heilshandelns in der Geschichte. Die Kirche setzt die göttliche Oikonimia fort und realisiert so diese in der Geschichte. Dies ist nun eine Auffassung, die auch in der evangelischen Theologie beispielsweise von Schleiermacher oder Karl Barth vertreten und in der evangelischen Ekklesiologie der Gegenwart wieder aufgegriffen wurde.
Im zweiten Teil erläutert Sch. »das Gegenüber von Akribeia und Oikonomia in der orthodoxen Seelsorgepraxis und sein Niederschlag in kirchenoffiziellen Dokumenten«. An exemplarischen Fällen seelsorgerlicher Praxis (Bußpraxis, Fastenpraxis, Ehepastoral) erläutert Sch. das Gegenüber von Akribeia und Oikonomia im orthodox-kirchlichen Handeln. Ausführlich analysiert er dazu neu­ere orthodoxe Dokumente (Texte aus dem Vorbereitungsprozess auf das »Heilige und Große Konzil der Orthodoxen Kirche«).
Im dritten Teil geht Sch. auf »das Gegenüber von Akribeia und Oikonomia im Kontext ökumenischer Begegnung« ein und dis­kutiert Chancen und Herausforderungen, die sich aus dem vom Gegenüber von Akribeia und Oikonomia geprägten orthodox-kirchlichen Handeln für die Ökumene ergeben. Dazu stellt Sch. in einem ersten Schritt einige wichtige Felder der Anwendung des Zusammenhangs von Akribeia und Oikonomia im Bereich ökumenischer Begegnungen dar: die Frage der Anerkennung heterodoxer Sakramente beim Übertritt zur Orthodoxie, die Zulassung ge­mischt-konfessioneller Ehen, die Teilnahme an ökumenischen Gottesdiensten. Als einen Grenzfall thematisiert Sch. hier die Oikonomia als pastorales Mittel für die Zulassung Heterodoxer (An­gehöriger anderer christlicher Konfessionen) zur Eucharistie. In einem zweiten Schritt untersucht Sch. dann den Niederschlag der Thematik in bisherigen ökumenischen Dialogen, wobei er als negatives Beispiel das Verhältnis von Akribeia und Oikonomia in den anglikanisch-orthodoxen Dialogen und als positives Beispiel den nordamerikanischen orthodox-römisch-katholischen Konsultationsprozess präsentiert. In einem dritten Schritt diskutiert Sch. schließlich die Chancen und Herausforderungen, die sich aus dem Zusammenhang von Akribeia und Oikonomia für die zukünftigen Begegnungen mit orthodoxen Kirchen ergeben.
Sch.s Arbeit vereint gelungen verschiedene Perspektiven auf den Zusammenhang von Akribeia und Oikonomia. Diese Gesamtsicht – neben allerlei gelungenen einzelnen Erkenntnissen – ist das Besondere an seiner Untersuchung, mit der sie über das zu Akribeia und Oikonomia schon Bekannte hinausführt. Zu einer gründlichen begriffsgeschichtlichen Information kommt eine schöne Übersicht über die Verwendung beider Begriffe in einer ganzen Reihe neuerer Entwürfe orthodoxer Theologie. Sodann wird das Begriffspaar in der Perspektive der Pastoraltheologie präsentiert. Und schließlich wird sehr konstruktiv das Begriffspaar im Blick auf die ökumenischen Begegnungen der Kirchen erörtert.