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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1408–1409

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kreutzer, Ansgar

Titel/Untertitel:

Kritische Zeitgenossenschaft. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes modernisierungstheoretisch ge­deutet und systematisch-theologisch entfaltet.

Verlag:

Innsbruck-Wien: Tyrolia 2006. 493 S. 8° = Innsbrucker theologische Studien, 75. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-7022-2800-2.

Rezensent:

Hans-Joachim Höhn

Mit dem Dokument »Gaudium et spes« hat das II. Vatikanische Konzil in der Mitte des 20. Jh.s den überfälligen Versuch unternommen, Ort und Auftrag der katholischen Kirche in der modernen Welt zu bestimmen. Da zu den Merkmalen der Moderne ein ständiger, sich zuweilen schubweise beschleunigender sozialer und kultureller Wandel gehört, ist eine solche Vergewisserung selbst ein unabschließbarer Prozess. Vor allem aber lässt sie sich nicht im theologischen Alleingang durchführen. Wer über die Kirche in der Gesellschaft von heute nachdenkt, muss dabei nicht nur etwas von der Kirche und ihrem dogmatischen Selbstverständnis verstehen. Wer nicht zugleich auch etwas von der Gesellschaft versteht, sich nicht in ihren Strukturen und Wandlungsprozessen auskennt, hat nichts begriffen vom Ort und von den Aufgaben der Kirche in der Welt von heute und versteht darum letztlich auch nichts von der Kirche. Eine zeit- und sachgemäße Ekklesiologie, die bestimmen will, wie kirchliches Handeln in zeitgemäßer Weise dem Evangelium gerecht werden kann, bedarf daher stets einer Bezugnahme auf sozialwissenschaftliche Analysen und Diagnosen dessen, was »an der Zeit« ist. Vor diesem Hintergrund unternimmt K. in seiner an der Universität Freiburg erstellten Dissertation, die 2006 mit dem »Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung« ausgezeichnet wurde, nicht nur den Versuch einer systematisch-theologischen »relecture« des Konzilsdokumentes. Vielmehr stellt er seine Rekonstruktion von Genese, Gehalt und Geltungsanspruch dieses Textes in einen sozialtheoretischen, d. h. modernisierungstheoretischen Kontext.
Nach konzeptuellen Vorüberlegungen zu Gegenstand, Leitmotiv und leitendem Interesse der Studie (15–64) erfolgt im ersten Teil der Arbeit eine Reflexion maßgeblicher soziologischer Zeitdiagnosen und Sozialanalysen (65–164). K. unternimmt hier nicht nur eine instruktive Vermessung soziologischer Modernisierungsdiskurse (u. a. mit Blick auf W. Zapf, U. Beck, J. Habermas, F.-X. Kaufmann), sondern fokussiert mit dem Paradigma der funktionalen Differenzierung (N. Luhmann, R. Münch) auch ein Merkmal genuin »moderner« sozialer Strukturen und Entwicklungslinien, das für die gesellschaftliche Antreffbarkeit und Relevanz der Kirche höchst folgenreich ist. Inwiefern sich das theologische Selbstverständnis der katholischen Kirche kritisch und konstruktiv auf diese Be­schreibung einlassen kann, ist die Leitfrage des zweiten Hauptteiles (165–326). Geboten wird hier eine umfassende Darstellung des theologiegeschichtlichen Hintergrundes, der spannenden und durchaus dramatisch verlaufenden Redaktionsgeschichte des Konzilstextes sowie eine detailgenaue Interpretation seiner Endgestalt unter dem besonderen Aspekt der »Zeitgenossenschaft«. Anhand zweier »Überblendungen« erfolgt dabei auch ein Vergleich des Bildes moderner Gesellschaften, wie es »Gaudium et spes« zeichnet, mit den zuvor präsentierten soziologischen Modernitätsbestimmungen. Besonderes Augenmerk wird auf die theologische Hermeneutik des Konzilstextes gelegt, die sich eine Deutung der »Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums« (GS nr. 4, nr. 11) vornimmt und von K. methodisch und sachlich auf ihre Modernitätskompatibilität und -kritik befragt wird.
Der dritte Teil der Arbeit setzt diese Überlegungen fort und skizziert zunächst das Anspruchsprofil einer »kontextuellen Theologie der modernen Gesellschaft« (333), welche den zeit- und sozialhermeneutischen Ansatz des Konzilstextes (inkl. seines Aktualisierungsbedarfes) für das Projekt einer kritischen Zeitgenossenschaft systematisch entfaltet, d. h. auf das methodische Selbstverständnis der Theologie, auf ihre Bearbeitung der Gottesfrage und auf die Bestimmung der Sozialformen des Christentums bezieht (333–442). K. erörtert dabei intensiv, welchen Beitrag explizit modernisierungstheoretisch angelegte Arbeiten in der zeitgenössischen Theologie und Religionstheorie (u. a. C. Boff, Ch. Taylor) leisten für sein Projekt einer theologischen Zeitgenossenschaft, die sich widerständig auf den »Lauf der Welt« einlässt. Dabei macht es den besonderen Reiz dieser Passagen aus, dass K. bewusst auf heterogene theo­logische Paradigmen rekurriert und Autoren mit höchst un­terschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten zur Sprache kommen lässt. Erst aus der »Quersumme« ihrer Optionen ergibt sich das Konzept einer Zeitgenossenschaft, das K. als einen unabdingbaren, spezifischen »Habitus« des Theologietreibens darstellt. K. verbindet mit dieser Bestimmung einer theologischen »Einstellung« zur Zeit kein kurzatmiges Bestreben, mit kurzlebigen Trends und Mo­den gleichauf zu sein. Vielmehr plädiert er für einen Stil theologischer Reflexion, welche für zeitgemäße Unzeitgemäßheiten des Evangeliums eintritt, anstatt mit zeitlos gültigen Wahrheiten an der Welt vorbeizureden.
K. hat eine äußerst material- und perspektivenreiche Studie vorgelegt, die erstmals drei Theoriekomplexe überblendet, die üblicherweise nur separat in sozial-, ideen- und kirchengeschichtlicher Perspektive angegangen werden. K. versteht sich auf akri­bische, detailgenaue Textanalyse ebenso wie auf Plädoyers, die das Ganze der Theologie in den Blick nehmen. Seine modernisierungstheoretische Lesart von »Gaudium et spes« eröffnet für die kritische Rezeption des Konzilstextes einen Zugang, der mit dem Text etwas unternimmt, was dieser selbst unternehmen wollte: eine zeitgemäße Darstellung dessen, was die Sache des Christentums ist, und eine von der Sache des Evangeliums herkommende Deutung, was für Christen an der Zeit ist. K.s Studie ist darüber hinaus ein Vorbild für systematisch-theologisches Arbeiten, das nicht nur Texthermeneutik oder Rekonstruktion der Geschichte von Texten bleiben darf, sondern auch – um der Wirkung dieser Texte wille n– den Anschluss an eine (sozialwissenschaftliche) Hermeneutik ge­genwärtiger Lebens- und Glaubenswelten leisten will. Um ebendies geht es auch bei dem Projekt christlicher Zeitgenossenschaft: nach den Um­ständen einer zeitgemäßen Glaubenspraxis zu fragen und den Beitrag zu sondieren, den der Glaube zum rechten Verständnis der Zeit leisten kann.