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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1399–1401

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gerstner, Tilman

Titel/Untertitel:

Wie religiös sind Konfirmandinnen und Konfirmanden? Eine empirische Untersuchung mit 958 Fragebögen.

Verlag:

Norderstedt: Books on Demand 2006. 484 S. m. Tab. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-8334-4956-X.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Sind zu religiösen Einstellungen von Kindern und älteren Jugendlichen in den letzten Jahren etliche empirische Untersuchungen veröffentlicht worden, so fehlen entsprechende empirisch gesicherte Daten für die Altersgruppe der Konfirmanden, d. h. für 13/14-Jährige. Die vorliegende Studie will diese Lücke schließen. Sie basiert auf einer schriftlichen Befragung von knapp 1000 württembergischen Konfirmandinnen und Konfirmanden, die im Winter 2001/02 vom Vf. – seinerzeit Studienassistent am Pädagogisch-Theologischen Zentrum in Stuttgart-Birkach – durchgeführt wurde. Im Zentrum der Studie steht die Präsentation und Auswertung der Ergebnisse (Kapitel 3, 85–417). Ein einleitendes Kapitel gibt Auskunft über Motivation und forschungsgeschichtliche Einordnung der Studie (Kapitel 1, 7–36), es folgen methodologische Überlegungen und Angaben zum Verlauf der Befragung (Kapitel 2, 37–84). An die Präsentation der Ergebnisse schließen sich Überlegungen zu ihrer entwicklungspsychologischen Bedeutung (Kapitel 4, 418–431) und erste konzeptionelle Folgerungen für die Gestaltung des Religionsunterrichts (Kapitel 5, 432–448) an; am Ende steht eine kurze Zusammenfassung (Kapitel 6, 449–452). Im Anhang der Studie findet sich neben detaillierten Angaben zum Sample u. a. der verwendete Fragebogen (476).
Die grundsätzliche Relevanz des Forschungsanliegens für Konzeptionierung und Gestaltung des Konfirmandenunterrichts, aber auch im Blick auf den Religionsunterricht mit 13/14-Jährigen, braucht kaum eigens betont werden. Wer mit Jugendlichen dieser Altersgruppe arbeitet, weiß um die Schwierigkeiten, ihre Einstellungen zu erfassen: Probeweise Übernahmen von Positionen, mä­andrierende Überzeugungen und die zurückhaltende Bereitschaft zur Auskunft erschweren nicht nur dem Praktiker jedwede Prognose, sondern lassen auch die wissenschaftliche Erfassung der religiösen Einstellungen dem Versuch gleichen, eine Fledermaus im Flug zu fotografieren. Ein gestochen scharfes Bild ist dabei kaum zu erwarten. Dass freilich am Ende der Lektüre des Buches kaum mehr als Konturen erkennbar sind, dürfte über die genannten Schwierigkeiten hinaus konzeptionellen Problemen sowie Inkongruenzen zwischen Fragebogengestaltung und Ergebnisinterpretation geschuldet sein.
Das Konzept der Studie wird durch die Entscheidung geprägt, qualitative und quantitative Aspekte in einem »gemischte[n] Verfahren« (44) zur Anwendung zu bringen: Ein Fragebogen mit überwiegend offenen Fragen soll »zum offenen, spontanen und ehrlichen Antworten einladen« (45); die Auswertung kategorisiert die erhaltenen Antworten und quantifiziert sie anschließend. Inwieweit auf diesem Weg tatsächlich valide quantitative Ergebnisse zu erreichen sind, wird weiter unten zu fragen sein. Einer qualitativen Auswertung sind freilich schon durch die Samplegröße Grenzen gesetzt; auf Rekonstruktionen individueller Profile anhand einzelner Fragebögen verzichtet der Vf. leider.
Die Ergebnisse werden in Kapitel 3 in der Reihenfolge des Fragebogens präsentiert, nach Dimensionen geordnet und quantitativ zu ausgewählten Faktoren in Relation gesetzt. Ertrag und Probleme der Vorgehensweise möchte ich exemplarisch an einzelnen Fragen verdeutlichen.
Als Basiskategorien, die mit den übrigen Faktoren korreliert werden, dienen einerseits soziologische Angaben wie Geschlecht, besuchte Schule und Wohnortgröße, die am Ende des Fragebogens (Frage 9) abgerufen bzw. durch die Sampleauswahl festgelegt werden; andererseits versucht der Vf., subjektive Einschätzungen zur Wichtigkeit des Gottesglaubens, zum eigenen Glauben sowie zur religiösen Sozialisation als Basiskategorien fruchtbar zu machen. Angesichts der Bedeutung der genannten Faktoren ist es bedauerlich, dass der Fragebogen sowohl im Blick auf die Einschätzung des eigenen Glaubens als auch im Blick auf religiöse Sozialisation lediglich indirekte Schlüsse zulässt. Der eigene Glaube ist Bestandteil einer Doppelfrage (Frage 5: »Glaubst du selbst an Gott? Schreibe hier auf, was dir bei deinem Glauben hilft und was es dir schwer macht zu glauben«), bei der offen bleibt, ob es sich um zwei getrennte Fragen handelt oder die zweite Frage die erste expliziert. Dass damit »bewusst … die Direktheit der Frage durch die Form einer Doppelfrage abgemildert« (58, Anm. 158) wurde, hat nicht wenige Befragte dazu verführt, nur auf die zweite Frage einzugehen – entsprechend mühselig und nicht eben überzeugend gestaltet sich die nachträgliche Rekonstruktion und Kategorisierung der religiösen Selbsteinschätzungen (120–139). Dass der Vf. in diesem Zusammenhang den Verzicht auf eine Einschätzungsskala mit dem Hinweis auf den Gabecharakter des Glaubens begründet (120), scheint mir subjektive religiöse Selbstwahrnehmung mit einem theologischen Urteil über Glauben zu verwechseln – und verwunderlich angesichts der schließlich doch vorgenommenen Kategorisierung (vgl. 140, Anm. 240!). Kaum belastbarer ist der Faktor »religiöse Sozialisation«, insofern er ausschließlich auf Angaben zu »Gruppen/Vereine[n], die ich besuche oder besucht habe«, beruht (87) – Prägungen durch Familie, Schule oder auch den Kindergottesdienst bleiben bei dieser Formulierung gänzlich unberücksichtigt. Entsprechend gering (12,4 %) ist der Anteil der mittels kirchlicher Gruppenzugehörigkeit Identifizierten, die hinfort stereotyp als »religiös Sozialisierte« (118: »evangelische Jugendliche im Vergleich zu den anderen«) bezeichnet werden.
Unbeschadet der genannten Probleme ermöglichen die Antworten auf Frage 5 (vgl. 232–295), die häufig im Wortlaut zitiert werden, einen aufschlussreichen Einblick in Herausforderungen und Hilfen jugendlichen Glaubens. Inwieweit die prominente Stellung, die neben der Sehnsucht nach religiösem Erleben die Theodizeefrage einnimmt, der zeitlichen Nähe der Befragung zu den New Yorker Terroranschlägen und dem folgenden Afghanistankrieg 2001 geschuldet ist, wie der Vf. erwägt, wäre eine lohnenswerte Frage für eine Reduplikationsstudie.
Nicht selten suggerieren die Fragestellungen mehr Offenheit, als die Interpretation faktisch zulässt. So werden die Jugendlichen zu Beginn des Fragebogens gebeten, einen Text ihrer Lieblingsmusikgruppe, der ihnen gefällt, aufzuschreiben. Das Ergebnis mag unter verschiedenen Gesichtspunkten interessant sein – die Texte als Spiegel der »Hoffnungen und Träume bei KonfirmandInnen« (149) zu lesen, führt freilich zu einigen grotesken Interpretationen. Unter der Überschrift »So ist das zweite große Thema der Lieder das ›Ich‹: wer bin ich, was gibt mir Kraft« finden sich u. a. folgende von den Konfirmanden aufgeschriebene Liedzeilen: »I rule – I’m real«, »You win again«, »We are the world, we are the children« – oder auch: »Es ist geil[,] ein Arschloch zu sein« (148).
In vergleichbarer Weise wäre zu diskutieren, inwieweit die Aufgabe, Gott für jemanden zu beschreiben, »der noch nie was von Gott gehört hat«, uneingeschränkt geeignet ist zur Rekonstruktion individueller Gottesbilder (vgl. 171–231). Die Formulierung lässt jedenfalls offen, ob es dabei um eigene Gottesvorstellungen geht oder eher darum, enzyklopädisches Allgemeinwissen zum Gottesbegriff wiederzugeben.
Die wiederholt geäußerte Skepsis des Vf.s im Blick auf eine quantitative Auswertung des Materials (vgl. 45 und passim) kann man nach der Lektüre des Buches nachvollziehen. Die Antworten lassen sich häufig kaum trennscharf kategorisieren, fallen bisweilen in mehrere Kategorien zugleich oder sind überhaupt inkompatibel zur vorgeschlagenen Kategorisierung (das betrifft in einem Fall mehr als 50 % der Antworten, vgl. 397). Insofern ist man gut beraten, die Zahlenangaben als Tendenzanzeigen zu lesen, nicht jedoch ohne Berücksichtigung des Kontextes zu übernehmen. Das gilt aus den o. g. Gründen insbesondere für Korrelationen mit den Faktoren »religiöse Selbsteinschätzung« und »religiöse Sozialisation«.
Mit Recht widmet sich die Studie der bislang wenig erforschten Religiosität im frühen Jugendalter. Wer das Buch überfliegt, be­kommt einen lebendigen ersten Eindruck von dem, was Konfir­mandinnen und Konfirmanden in einer volkskirchlich geprägten Gegend Deutschlands religiös prägt und bewegt – und wird wahrscheinlich (wie der Rezensent) den Folgerungen, die der Vf. etwa im Blick auf eine Gebetsdidaktik zieht (438 f.), im Grundsatz zustimmen.
Eine genauere Lektüre offenbart freilich nicht nur handwerkliche Mängel und wiederholte Sackgassen der Auswertung, die man ohne Verlust hätte streichen können (vgl. etwa den vergeblichen Versuch, die Gebetshäufigkeit Jugendlicher zu rekonstruieren: 370–377). Sie macht insbesondere deutlich, dass die Vermischung qualitativer und quantitativer Elemente in dieser Studie methodisch letztlich unbefriedigend bleibt. Für quantitative Aussagen ist der Vf. über weite Strecken auf Interpretationen angewiesen, deren Aussagewert er selbst oft skeptisch beurteilt. Eine sorgsame qua­li tative Auswertung hingegen, die individuelle Profile erstellt, scheint schon angesichts der schieren Fülle des Materials kaum zu leisten. Am Ende weist der Vf. auf die Option hin, auf Basis der gewonnenen Antworten eine quantitative Folgeuntersuchung zu konstruieren (445). Dazu kann man ihn nur ermutigen: Das gesammelte Material böte dafür eine hervorragende Grundlage.