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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1395–1397

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greiner, Dorothea, Noventa, Erich, Raschzok, Klaus, u. Albrecht Schödl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wenn die Seele zu atmen beginnt ... Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 319 S. 8°. Geb. EUR 19,90. ISBN 978-3-374-02509-1.

Rezensent:

Hans-Frieder Rabus

Der gefällig aufgemachte Sammelband will geistliche Begleitung im Bereich der evangelischen Kirchen in Deutschland vorstellen, theologisch einordnen und zur Praxis motivieren. Sechs Kapitel geben einen breiten Überblick: Was ist geistliche Begleitung? – Erfahrungen – Theologische Reflexionen – Formen, Ausbildungen und Standards – Geistliche Begleitung für den Pfarrberuf – Geist­liche Begleitung: mehr als Personalentwicklung. Die Lektüre die-ser gelungenen Mischung von Erfahrungsberichten, theologischer Grundlegung und Impulsen für kirchengestaltendes Handeln macht Lust auf vertiefende Weiterarbeit.
Klemens Schaupp stellt Definitionen und Kriterien von geistlicher Begleitung vor. Der einzige katholische Autor darf das Buch mit einem zentralen Beitrag eröffnen – Beispiel für die ökumenisch integrierende Kraft des Themas und zugleich für die geringe Theorie-Praxiserfahrung evangelischer Kirchen damit. Schaupp gelingt glei­chermaßen die Darstellung des Begleitprozesses wie auch die Verknüpfung mit der altkirchlichen und anglo-amerikanischen Tradition. Seine Definition der geistlichen Begleitung als Charisma, das die Taufgnade in Menschen entbinden hilft, verbindet fundamentaltheologische mit seelsorglichen Aspekten. In den Stichworten Umkehr, Berufung, kontemplative Grundhaltung und Sendung ist die lebensnahe und neu aktuelle Weisheit der igna­tianischen Exerzitiendynamik zu erkennen. In einem weiteren Bei trag Schaupps sind besonders inspirierend die theologischen Ho­rizonte, die er anhand von drei aktuellen Praxiskonzeptionen geistlicher Begleitung sichtbar zu machen versteht: Welche Be­ziehungsmetaphern leiten einen geistlichen Begleitprozess? In­wiefern sind Elemente einer apophatischen Theologie, die gleichwohl das weltverneinende Anschauungsgewand eines neuplatonischen Dualismus überwindet, unerlässlich für den Umgang mit der Erfahrungsdimension in der geistlichen Begleitung? Welche Hindernisse im Gottesbild selbst können sich beim Begleiten geistlicher Wege auftun?
Ein Glanzpunkt ist Volker Leppins Beitrag: Johannes Staupitz als Luthers geistlicher Begleiter. Spannend zu lesen, welche Rolle der Ordensgeneral und Förderer Luthers für seine reformatorische Entwicklung spielte. Man lernt sehen, wie Luthers Schlüsselerfahrung, sein Neuverständnis von Gottes Gerechtigkeit, sich vorbereitet hat in dem von Staupitz begleiteten Kampf um eine befreiende Buß-Spiritualität. »Staupicius hat die doctrinam angefangen« – Luthers reformatorische Erneuerung wurzelt in der christuszentrierten Spiritualität seines väterlichen Geburtshelfers, dringt zu immer größerer Klarheit durch die geistliche Unterscheidungskraft seines Begleiters: Anfechtungen als Weg verstehen, auf dem Gott in der Seele wirkt; das spekulative Denken an die Gegenwart Christi binden und dadurch von Ängsten erlösen; den tröstenden Christus aller Selbstbeurteilung entgegenhalten – in Luthers erster Ablassthese spiegelt sich eine für ihn neue Freude an der Buße, die er den mystischen Traditionen seines geistlichen Begleiters verdankt. Dass die Wege der beiden sich trennen mussten, lehrt Leppin von geistlichen Beweggründen her zu sehen: Staupitz sucht Luthers Anliegen auch noch im Dissens zu schützen, indem er ihn vom Ordensgelübde löst und Gott empfiehlt. Luther erlebt das schmerzhaft als Rauswurf – »voller Trauer wie ein abgestilltes Kind über seine Mutter«. Luthers geistlicher Vater versichert seinem ihm über den Kopf gewachsenen Zögling bis ins Todesjahr 1524 seine Liebe und überbrückt darin bewusst die sich verbreiternde Kluft zwischen altem und neuem Glauben.
Die Linien dieser geistlich-theologischen Eröffnung werden, wohl der Konzeption als Sammelband geschuldet, nicht direkt wei­tergeführt. Vielmehr reihen sich Aufsätze mit unterschiedlichen Gesichtspunkten aneinander: Albrecht Schödl erhebt Grund­züge von Bonhoeffers spiritueller Pädagogik und arbeitet anhand der Vorlesung »Theologische Psychologie« (1932/33) den geistlichen Übungsgedanken hervor. Die praktische Weiterentwicklung und Einbettung in eine kommunitäre Spiritualität zeigt sich in »Ge­meinsames Leben« (1939). Zu einem mystagogischen Lernweg bis hin zur Leidensannahme und Sterbevorbereitung verdichtet Bonhoeffer in der Haft seine Erfahrungen als »Stationen auf dem Weg zur Freiheit« (1944). Derselbe Autor sucht in der Seelsorgekonzeption Rudolf Bohrens Anknüpfungen zu geistlicher Begleitung. Seine Hinweise auf Bohrens Lehrer Thurneysen und dessen Konzept eines geistlich erneuerten Sehens regen die eigene Suche an. Anna-Maria aus der Wiesche (Communität Christusbruderschaft) meditiert geistliche Begleitung nach dem Epheserbrief. Bernhard Petry nimmt geistliche Begleitung als Beitrag zur Gemeindeentwick­lung wahr. Andreas von Heyl bringt Beobachtungen und Gedanken zur Wechselbeziehung von Burnout und geistlichem Leben.
Die theologischen Reflexionen schließen mit einem in Briefform geführten Rundgespräch (Greiner, Raschzok, Schaupp, aus der Wiesche). Diese Darstellungsweise zielt auf größere Lebendigkeit und Praxisnähe. Viele bedenkenswerte Einzelaspekte – dennoch machen diese 35 Seiten Mühe mangels redaktioneller Straffung, Durchdringung, Untergliederung. Ein ähnliches Risiko gingen die Herausgeber mit Erfahrungsberichten ein. Einerseits eine Stärke, Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Andererseits sind Wiederholungen und breit ausgemalte Situations- und Befindensdarstellungen unvermeidbar. Dennoch: Wer Anschauung wünscht, ist mit diesem Kapitel gut beraten. Die beiden Kapitel »Geistliche Begleitung für den Pfarrberuf« und »Geistliche Begleitung – mehr als Personalentwick­lung« geben, abgesehen von einem Modell geistlicher Begleitung von Hannoverschen Vikaren, die Situation in der Bayerischen Landeskirche wieder. Bemerkenswert: In ökumenischer Öffnung wurden schon seit 1991 Ignatianische Exerzitien mit Pater Andreas Falk­ner SJ als geistlichem Begleiter im Programm des Pastoralkollegs Neuendettelsau verankert.
Sehr nützlich im Sinne eines Nachschlagewerks ist die Zusam­menstellung von Maria Reichel und Hansjörg Schemann über Ausbildungen zur geistlichen Begleitung im Bereich der EKD. Ebenso verdienstvoll der Beitrag über Notwendigkeit und Problem von »Standards« in der Ausbildung zur geistlichen Begleitung. Die Darstellung von drei exemplarischen Gestalten geistlicher Begleitung gibt eine systematische Zusammenfassung dessen, was in den Erfahrungsberichten zu lesen ist.
Das Buch eignet sich für Theologen und interessierte Laien. Die redaktionellen Schwächen werden aufgewogen durch eine in vielen Beiträgen aufscheinende Entdeckerfreude an Wegen zu geistlicher Vertiefung. Der Schwerpunkt liegt auf Gebetsweisen der Schriftbetrachtung, in einer lutherisch gegründeten Aufnahme ignatianischer Traditionen. Kontemplative Gebetsweisen, damit verbundene Begleitprozesse und Ausbildungen zur Meditationsbegleitung sind nicht berücksichtigt. Zur betont evangelischen Perspektive geistlicher Begleitung frage ich, ausgehend von Leppins Grundlegung: Ist uns hier nicht von vornherein die ökumenische Perspektive aufgetragen? Die konfessionelle Profilierung in ihrer – wie es scheint – Unvermeidlichkeit und damit einhergehenden Beschränktheit wird von Luther und Staupitz her überwölbt durch eine Liebe, die auch über dem Bruchstückhaften der Wege ihr Gegenüber geistlich nicht fallen lässt.