Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1393–1395

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gellner, Christoph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paar- und Familienwelten im Wandel. Neue Herausforderungen für Kirche und Pastoral.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2007. 239 S. 8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-290-20034-3.

Rezensent:

Christoph Morgenthaler

Der Band bietet eine reiche Palette empirischer Zugänge, konzeptioneller Neuansätze sowie konkreter Praxiserfahrungen heutiger Beziehungs- und Familienpastoral. Gellner reportiert zuerst in solider Form bekannte Eckwerte der Familienforschung, denn »zeit- und milieusensible Pastoral« wird sich »vorurteilslos und ohne Scheuklappen um ein positives Verstehen dieser vielfältigen und widersprüchlichen Realität heutiger gelebter Paarbeziehungen und Familien bemühen, um von ihren Bedürfnissen her die kirchliche Praxis neu anzuschauen« (26). Gellner ist zuversichtlich, dass wesentliche Sinngehalte christlicher Ehe auch heute »beachtliches Orientierungspotential« (27) besitzen und dem Leben von einer »im Kern religiös-spirituellen Dimension« (28) her eine verbindliche Ausrichtung geben können. Vor diesem Hintergrund gilt es nicht nur, gelebte familiäre Religiosität in Gemeinden kreativ zu unterstützen, sondern überhaupt eine »neue Koalition zwischen Kirche und Familie«(31) zu schmieden. Belok entwickelt Grundzüge einer »prozess- und wachstumsorientierte[n| Beziehungspastoral«, welche die Vielfalt heutiger Lebensformen wertschätzend begleitet und deren Ziel es ist, »Mit-Sorge« zu tragen für »die Gewinnung, Erhaltung und Erneuerung der Fähigkeit zu verlässlichen, nahen und dauerhaften Beziehungen zwischen Mann und Frau in der Ehe und in eheähnlichen Liebesgeschichten« (39). Auch Ehe-Tod und Wiederheirat sind aber als pastorale Herausforderung wahrzunehmen und zu durchdenken, »bis hin zu einer Theologie der Ehe, die auch einen neuen Anfang in einer zweiten Ehe als sakramentales Beziehungszeichen zu denken vermag« (61). Vor dem Hintergrund einer kritischen Erörterung geschichtlicher Entwicklungsbedingungen der tradierten christlichen Sexualmoral zeichnet Halter Grundrisse einer erneuerten theologischen Ethik als Orientierung für eine zeitgenössische christliche Sexual moral. Kern einer auch heute verbindlichen (Sexual-)Moral ist »menschliche Selbstbindung in verantwortlicher Freiheit aufgrund von Einsicht« (148). Baumann thematisiert vor einem düster gezeichneten Hintergrund einer postindustriellen Gesellschaft, die Sozialcharaktere mit »kalten Herzen« hervorbringe, »christliche Beziehungsspiritualität«, die sich in einer transzendentalen oder religiösen Dimension verankert und sowohl »freie Liebe« wie »freie Treue« (206) begründet.
Die Hinwendung der Kirchen zur Familie geschehe auch heute noch eher normativ-appellativ als wahrnehmend-wertschätzend, moniert Stephanie Klein mit Recht. Auf Grund qualitativer Untersuchungen geht sie der geschlechtsspezifischen Ausprägung und Tradierung von Religiosität in der Familie nach und vermutet, die religiöse Praxis der Frauen in Kirche und Familie werde oft nur individualisiert wahrgenommen oder auch trivialisiert, ja, sabotiert. Marianne Kramer erschließt Fotoalben als Spiegel gelebter Religion von Familien. Familiäre Religiosität wird in Photoalben sowohl inhaltlich in den Motiven, performativ in der Inszenierung der Aufnahmen als auch im innerfamiliären Gebrauch und ak­tu­ellen Gespräch über Photoaufnahmen sichtbar. Das prädestiniert Photographien zur subtilen Spurensuche nach familiär-biographischer Religiosität und utopischen Momenten eines gelungenen Lebens.
Religiöse Differenz innerhalb familiärer Lebensformen ist das Thema weiterer Artikel. Gellner fokussiert Paar- und Familienkonstellationen mit unterschiedlichem konfessionellem Hintergrund, in denen trotz Fremdheitserfahrungen doch erlebbar wird, »dass die Konfessionen heute viel mehr verbindet als sie trennt« (101). Nach Helga Kohler-Spiegel ist in bi-religiösen Familien in zugespitztem Ausmaß der Umgang mit kultureller und religiöser Differenz gefordert. Solche Familien sollten als »Expertinnen des interreligiösen Dialogs« (136) vermehrt Gehör finden und ihre Kompetenzen in kirchlicher Arbeit aktiv einbringen können. Marie-Therese Beeler fordert in der Familienpastoral ebenfalls Dif­ferenzsensibilität, nämlich Genderbewusstsein im achtsamen Um­gang mit Geschlechterrollen, Idealen und Lebenswelten. Gendergerechtigkeit ist übrigens im Band selbst realisiert, in dem Frauen und Männer mit gleichem Gewicht zu Wort kommen. Madeleine Winterhalter-Häuptle und Niklaus Knecht-Fatzer schließen den Band mit einer Bestandsaufnahme pastoraler Ar­beitsformen mit Paaren, Eltern und Familien im Alltag der Pfarrei.
Viele der Artikel sind gut recherchiert und leisten solide Beiträge zu einer differenzierten Wahrnehmung heutiger Beziehungswirklichkeiten. Die Autorinnen und Autoren weichen auch den theologischen Grundsatzfragen einer Beziehungspastoral nicht aus, sondern greifen sie in ökumenisch offenen Reflexionsgängen auf, die teilweise tief schürfen und doch die praktische Ausrichtung auf eine veränderte humane Praxis in einer lebensfreundlichen Kirche nicht aus dem Blick verlieren. Die meisten Artikel stammen von katholischen Autorinnen und Autoren, die auch in kirchenrechtlich und pastoraltheologisch umstrittenen Fragen pointiert und kritisch Stellung beziehen. Einiges bleibt einem evangelischen Rezensenten fremd, wenn nicht befremdlich. Das Ja zur Pluralität unterschiedlicher Lebensformen und Glaubensweisen, das die Artikel durchzieht, mündet doch etwas oft ins theologische Lob der Zentralperspektive Ehe und Treue. Neben der vorrangigen Aufgabe der Aufarbeitung der Trauer über das Zerbrechen der ersten Ehe seien Paare mit dem Wunsch nach einer erneuten kirchlichen Trauung »nüchtern und offensiv auch über die Möglichkeit eines kirchlichen Ehenichtigkeitsverfahrens zu informieren« (59), so ist in einem anderen Artikel zu lesen. Ich wage zu bezweifeln, dass solche »Offensivität« befreiend wirkt. Insgesamt gelingt den Autorinnen und Autoren aber mit einer erstaunlichen Vielstimmigkeit und Einstimmigkeit zugleich ein engagiertes Plädoyer für eine erneuerte Beziehungspastoral in sich erneuernden Kirchen.