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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

995 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Sauer, Hanjo

Titel/Untertitel:

Erfahrung und Glaube. Die Begründung des pastoralen Prinzips durch die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1993. XV, 802 S. gr. 8° = Würzburger Studien zur Fundamentaltheologie, 12. DM 168,­. ISBN 3-631-44779-5

Rezensent:

Michael Sievernich

Das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) ist als "pastorales" Konzil in die Geschichte eingegangen, d. h. als Konzil, das auf dogmatische Definitionen und erst recht auf Lehrverurteilungen verzichtete und in seinen 16 Dokumenten (Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen) kontextuelle Verhältnisbestimmungen der Kirche ad intra und ad extra vornahm. Die Pastoralkonstitution über die "Kirche in der Welt von heute" (Gaudium et spes) erklärt zu Beginn ausdrücklich, warum sie "pastoral" genannt wird; weil sie nämlich, "gestützt auf Prinzipien der Lehre, das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute darzustellen beabsichtigt." Die Katholische Kirche klärt also auf diesem Konzil ihr theologisches Verhältnis zur Welt. Um diesen pastoralen Grundzug der "Verheutigung" (aggiornamento) und des Weltbezugs, Inspirationen Johannes XXXIII., ist heftig gestritten worden. Daß die Debatten bis heute nachklingen, zeigt auch der vorliegende, voluminöse Band, eine im Fach Fundamentaltheologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Würzburg vorgelegte Habilitationsschrift. Mit ihr sucht der Vf. nachzuweisen, daß das "pastorale Prinzip" kein bloß pragmatisch orientiertes Vorgehen anzeigt, sondern eine theologische Grundentscheidung und einen dogmatischen Fortschritt widerspiegelt.

Dies untersucht der Vf. nun im einzelnen in drei großen Schritten. Zunächst beschreibt er im umfangreichen ersten Teil das konziliare "Ringen um das Verständnis der Offenbarung" (1-474), d. h. die höchst komplexe Entstehungsgeschichte der Offenbarungskonstitution des Konzils. Für diese Rekonstruktion wertet der Autor minutiös die Akten des Konzils aus, so daß nicht nur die äußeren Debatten während der verschiedenen Sitzungsperioden nachgezeichnet werden, sondern auch die inneren Prozeduren und Konflikte. Überdies bietet der Vf. eine Auslegung des endgültigen Konzilstextes über die Offenbarung. In einem zweiten Schritt klärt er über den "dogmatischen Fortschritt des Konzils" auf (475-533), indem er exemplarisch die Kontroverse darstellt, die sich vor allem zwischen Alfredo Ottaviani, dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, und dem deutschen Theologen Karl Rahner abspielte, dem damals der junge Joseph Ratzinger sekundierte. Ein dritter Teil (534-607) reflektiert schließlich systematisch das Verhältnis von Glaube und Erfahrung und bietet auf diese Weise eine Interpretation des Konzils sowie eine konziliare Standortbestimmung der Kirche. Umfangreiche Anhänge (608-760) dokumentieren die verschiedenen Fassungen der Konstitution von der kurialen Vorlage des Jahres 1961 bis zur endgültigen Fassung von 1965, aber auch einschlägige Briefe, Stellungnahmen und Abstimmungsergebnisse. Ausschnitte aus einem aufschlußreichen Interview mit Karl Rahner aus dem Jahr 1982, Personenregister und das Literaturverzeichnis schließen die Arbeit ab.

Der historische Wert der Arbeit besteht zum einen darin, daß sie am Entstehungsprozeß der Offenbarungskonstitution quellenbezogene Einblicke in die Werkstatt des Konzils und seiner Prozeduren zur Konsensfindung erlaubt, zum anderen darin, daß das Ringen zweier Konzeptionen von Offenbarung nachgezeichnet und damit gewissermaßen der Vollzug eines Paradigmenwechsels offengelegt und ein Stück Theologiegeschichte des 20. Jh.s dokumentiert wird. Der systematische Ertrag ist, daß diese Arbeit den theologischen Rang des "pastoralen Prinzips" nachweist, das keine Erfindung der Kirche ist, sondern sie konstitutiert, "weil Gott selbst an ihr und am Menschen handelt und in diesem Handeln sich selbst offenbart" (482). Dieses pastorale Prinzip setzt Erfahrung und Glaube in Beziehung und bestimmt das Verhältnis von Dogmatik und Pastoral in einer neuen Weise.

Das geschieht nicht mehr in deduktiver Weise, derzufolge die Pastoral instrumentell die dogmatische Wahrheit zu vermitteln habe, sondern dergestalt, daß mit der gelingenden Verkündigung in Wort und Tat die Wahrheit der Kirche, nämlich ihr dogmatischer Begriff, auf dem Spiel steht. So werden Dogmatik und Pastoral in einen inneren Zusammenhang gebracht als zwei Pole eines Ganzen, die sich im Sinn einer Perichorese wechselseitig durchdringen. "So hat der Glaube der Kirche einen dogmatischen Pol, indem er sich begrifflich-reflex zur Aussage bringt in der Form der Lehre, und er hat einen pastoralen Pol, insofern er sich auf die Gegenwärtigkeit der Welt in der Konkretheit des Hier und Heute bezieht in der Form der Praxis." (3)

Der Autor vermag plausibel darzulegen, daß die am 18. 11. 1965 verabschiedete Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum dieses "pastorale Prinzip" begründet. Denn wenn dort unter "Offenbarung" das sich in Wort und Tat ereignendeHeilsgeschehen der Selbstmitteilung Gottes (Seipsum communicare), das in Jesus Christus seinen Höhepunkt findet, verstanden wird, dann hebt dieses Verständnis auf das Heilshandeln Gottes, auf seine Anrede und Begegnung mit dem Menschen ab und begründet so ein "pastorales Prinzip" in der Offenbarung selbst. Die theologische Rezeption des Konzils und seines pastoralen Prinzips steht freilich noch in den Anfängen.