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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1383–1385

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rager, Günter

Titel/Untertitel:

Die Person. Wege zu ihrem Verständnis.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg-Wien: Herder 2006. 382 S. gr.8° = Studien zur Theologischen Ethik, 115. Kart. EUR 52,00. ISBN 978-3-7278-1572-0 (Academic Press); 978-3-451-29386-3 (Her­der).

Rezensent:

Werner Brändle

1. In diesem Band sind 21 Aufsätze aus einem Zeitraum von über 30 Jahren gesammelt. Sie kreisen mehr oder weniger alle um die zentrale Thematik des Begriffs von der »Würde der Person«, die der Vf. auf Grund vielfältiger Interessen in Wirtschaft und Technik sehr gefährdet sieht. »Der menschliche Embryo, der seit der Einführung der In-vitro-Fertilisation in der Petrischale liegt, ist nun ungeschützt allen möglichen Manipulationen ausgesetzt.« (7) Die sich von diesem Ansatz her ergebende ideologiekritische Haltung will jedoch nicht den Fortschritt der neurobiologisch-medizinischen Forschung grundsätzlich hemmen, sondern eine interdisziplinäre »Deutung der Befunde versuchen, die der naturwissenschaftlichen und der personalen Realität gerecht wird, dies in der Überzeugung, dass diese beiden Realitäten sich letztlich nicht widersprechen« (7).
2. Der Band ist in fünf Teile gegliedert: Teil I gibt mit acht Aufsätzen einen detaillierten Forschungsbericht über »Bewusstsein und Person in den Neurowissenschaften« (11–181). Als Ausgangslage ist das »Leib-Seele Problem« (19–36) gewählt; die durchgehende Leitfrage der Aufsätze heißt: Was charakterisiert »Bewusstsein und Person in Wissenschaft und Lebenswelt«? (83–100). Teil II, »Der Status des Embryos« (185–252), versucht, aus verschiedenen Perspektiven die für den ganzen Band zentrale These: »Der Embryo ist von der Fertilisation an ein individueller, sich in Entwicklung befindender Mensch. Er ist eine sich entwickelnde Person.« (195) argumentativ zu stützen und wissenschaftlich zu rechtfertigen. Mit der Arbeit über die »Entwicklung des Menschen unter dem Gesichtspunkt von Individualität und Personalität« (219–249) dürfte dabei dieses Ziel am klarsten expliziert sein. Mit Teil III, »Anthropologie. Ethik. Medizin« (253–299), erreicht die Apologie der Personalität des Embryos ihren Höhepunkt. Im Aufsatz »Menschsein zwischen Lebensanfang und Lebensende« (253–289) versammelt der Vf. alle Argumente klar und deutlich für sein Anliegen. Die beiden anderen Aufsätze zur Ethik ärztlicher Praxis und zur Medizin als Wissenschaft sprengen die bis dahin durchgehaltene Konzentration auf die Thematik ein wenig. Teil IV, »Die Person in der indischen Philosophie« (315–349), ist der wenig überzeugende Versuch, in der Philosophie von Sri Aurobindo einen Gewährsmann aus einem anderen Kulturraum für die Personwürde zu finden. Bedenkt man, dass der Personbegriff ursprünglich in trinitätstheologischen Debatten entstanden ist, so dürfte dieser Ausflug in die indischen Philosophie m. E. eben eine kühne Äquivokation sein. Den Ab­schluss – Teil V: »Kurze Beiträge zu verschiedenen Themen« (353–374) – bilden vier Aufsätze, die als Exkurse zur Thematik verstanden werden können; wobei einzig das kritische und differenzierte Referat zum »Menschenbild im materialistischen Emergentismus von Bunge« (353–360) nochmals die Position des Vf.s deutlich macht und damit einen sinnvollen Beitrag zur Erkenntnis seines Anliegens darstellt.
3. Wie begründet nun der Vf. seine These von der »Würde der Person«, um die sich sein Interesse letztlich dreht? Ich folge zur Beantwortung dieser Leitfrage der Argumentation, wie sie paradigmatisch im schon genannten Aufsatz »Bewusstsein und Person in Wissenschaft und Lebenswelt« (veröffentlicht im Jahre 2000) expliziert wird. Es ist das Ziel des Vf.s, »neurowissenschaftliche und lebensweltliche Perspektiven zu Bewusstsein, Selbst und Ich zu­sam­menzusehen und in einem letzten, spekulativ gewagten Ab­schnitt Möglichkeiten aufzuzeigen, diese zwei Welten nicht nur als zueinander kompatibel, sondern auch als fruchtbare gegenseitige Unterstützung zu verstehen« (84). Dabei müsse die nur neurowissenschaftliche Erklärung des Bewusstseins als eine reduktionistische Erklärung verstanden werden, d. h. das Bewusstsein solle auf neuronale Prozesse und Strukturen zurückgeführt werden. Um diese Auffassung zu vertiefen, referiert der Vf. verschiedene Theorien für Bewusstsein, die das Nervensystem sowohl als notwendige als auch als hinreichende Bedingung betrachten. Als vorläufiges Zwischenergebnis formuliert er: »unser wissenschaftlicher Verstehenshorizont reicht nicht aus, um gleichsam die ›Innenseite‹ des Bewusstsein aufzudecken. Der subjektive Charakter des Bewusstseins, wie ihn Thomas Nagel beschrieben hat und wie ihn jeder von uns erfährt, bleibt dem jetzigen wissenschaftlichen Zugang verschlossen. ... Was wir erreichen können, ist der Fortschritt der Analyse der de facto notwendigen Bedingungen oder, in anderen Worten, der neuronalen Korrelate des Bewusstseins.« (90) Im weiteren Verlauf der Darlegung wird konsequent jede einseitige Erklärung von »Selbst, Ich und Person« als reduktionistisch abgelehnt; aber auch die traditionelle Vorstellung, als säße im Gehirn eine Art Homunculus, der alle Fäden in der Hand hält und unsere Handlungen plant und ausführt. Was aus der Aporie jeder monistischen Welterklärung herausführen könnte, wäre dem Vf. nach die spirituelle Erfahrung im Christentum (mit Verweis auf Augustinus) zusammen mit der indischen Tradition (mit Verweis auf Brahman), die zeigen, »dass die Freiheit, auf die hin wir unser begrenztes Ich preisgeben, ein personales Antlitz trägt« (100). Dieses »personale Antlitz« sieht der Vf. schon im embryonalen Stadium mensch lichen Lebens angelegt. Vehement und mit Hilfe aller Details aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen verteidigt er diese seine Sicht. »Die naturwissenschaftlich erfassbaren Phänomene haben uns darauf hingewiesen, dass mit der Fertilisation ein neuer Mensch entstanden ist, der die aktive Potenz besitzt, sich zu einem erwachsenen Menschen zu entwickeln, vorausgesetzt es werden ihm die notwendigen, lebenserhaltenden Umgebungsbedingungen gewährt. Hat der erwachsene Mensch Eigenschaften, welche die Zuschreibung des Begriffs Person rechtfertigen, so besitzt auch der sich entwickelnde Mensch diese Eigenschaften, wenn auch erst der Möglichkeit nach. Aus dieser Einsicht folgen wichtige Konsequenzen für den Umgang mit dem Embryo und dem Fetus, die im philosophischen und theologischen Teil weiter entfaltet und vertieft werden.« (249)
4. Man muss dieser Zuschreibung des Vf.s, dass der Embryo auch schon als Person zu verstehen ist, nicht folgen, dennoch ist die sachliche Art und Weise, mit der er die verschiedenen Positionen referiert und diskutiert, für die eigene Meinungsbildung hilfreich. Die Aufsätze sind durchgehend klar und argumentativ aufgebaut und geben den derzeitigen naturwissenschaftlichen Forschungsstand und dessen Methode verständlich wieder. Wer sich das medizinische und neurobiologische Basiswissen aneignen will, findet mit diesem Aufsatzband hilfreiche Darstellungen. Leider fehlen fast ganz Hinweise zur neueren ethischen Debatte um die Stammzellenforschung und in diesem Zusammenhang auch zu Positionen theologischer Ethik wie sie z. B. J. Fischer (Zürich) vorgetragen hat. Dass die weisheitlich-medizinische Tradition nicht fehlt, macht folgendes Zitat deutlich: »Das ganze Leben ist ein Prozess der Entfaltung und Reifung. Auch der letzte Akt, die Auseinandersetzung mit dem unausweichlichen Ende ... ist noch ein Akt der Reifung. In ihm drückt sich die Hoffnung auf eine dauernde Bejahung des individuellen Lebenssinnes aus.« (289)