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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1382–1383

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Marquard, Reiner

Titel/Untertitel:

Ethik in der Medizin. Eine Einführung in die evangelische Sozialethik.

Verlag:

Stuttgart: Religion-Pädagogik-Ethik 2007. 256 S. 8°. Kart. EUR 14,90. ISBN 978-3-938356-16-6.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Dieses Lehrbuch ist ein Hybrid, laut Haupttitel ein Grundriss der Medizinethik, laut Untertitel jedoch eine Einführung in die evangelische Sozialethik. Der Vf. hat sich viel – zu viel auf einmal – vorgenommen. Sein Buch richtet sich in einem Atemzug an ganz unterschiedliche Leser- und Benutzerkreise: als vermeintlich »Bo­logna«-taugliches Lehrbuch der Sozialethik an ein Fachhochschulpublikum, genauer gesagt, an Studierende der Sozialen Arbeit und der Gemeindediakonie, als ökumenisches Lesebuch an interessierte Laien aus dem evangelischen, katholischen und freikirchlichen Spektrum, als Medizinethik aber an Ärztinnen und Ärzte (Studierende der Medizin werden nicht erwähnt). Es ist gewissermaßen ein Buch für alle und keinen. In fortlaufend nummerierte Artikel unterteilt, befleißigt es sich gern eines essayistischen, bisweilen auch eines Predigtstils. Manche Passagen, insbesondere die eingestreuten kleingedruckten Stichworterläuterungen, sind jedoch in einem informativen Stil gehalten, wie er von einem Lehrbuch zu erwarten ist.
Auf die Einleitung (9–38) folgen drei Hauptteile: Einführung in die Ethik (39–76), Ethik in der Medizin (77–213) und »Theologische Begriffe in ethischer Verantwortung« (215–246). Das Buch schließt mit »Desiderata« (247), die einem Gedicht von Max Ehmann entnommen sind. Bibelstellen-, Namen- und Sachregister runden das Werk ab. Weiterführende Literaturhinweise finden sich in den An­merkungen. Sie werden aber nicht, wie bei einem für das Selbststudium konzipierten Lehrbuch zu erwarten wäre, didaktisch aufbereitet. Einzelne Gedankenwiederholungen, auf die der Vf. selbst aufmerksam macht, werden damit gerechtfertigt, »dass die Kapitel in selbst gewählter Abfolge gelesen und studiert werden können« (7). Sie dürften aber wohl eher mit der Entstehung des Buches zusammenhängen, das aus unterschiedlichen Vorlesungen, Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen erwachsen ist.
Die Einleitung zeichnet in groben Pinselstrichen ein Panorama unserer Gegenwart, die plakativ als »Postmoderne« apostrophiert wird (16; vgl. auch 208 f.). In dieser Gemengelage fragt der Vf. nach der Rolle von Religion, Glaube und Kirche. Evangelische Sozialethik versteht er als »ein Diakonat zur Gewissensbildung und Gewissensbindung« (36), als »Angebot im Bemühen um ein Leben in Wahrheit« (37). Der erste Hauptteil erläutert zunächst Grundbegriffe und Modelle der Ethik. Sodann wird die Unterscheidung zwischen Individual-, Personal- und Sozialethik eingeführt (59 ff.), wobei der Unterschied zwischen Individual- und Personalethik immer wieder verschwimmt. Das nächste Kapitel befasst sich mit Dilemmata und Güterabwägung (63 ff.; die Überschrift erwähnt auch den Begriff der Verantwortung, der hier freilich gar keine Rolle spielt, sondern im vorherigen Kapitel [54 ff.] erörtert worden ist). Die Einführung in die Ethik schließt mit einem »Plädoyer für eine lebensdienliche Ökonomie« (69 ff.).
Der zweite, der Medizinethik gewidmete Hauptteil, beginnt mit einer Reflexion über den Beruf des Arztes. Von Richard Siebeck übernimmt der Vf. den Begriff der »Medizin in Bewegung« (79 ff.). Weiter behandelt der Vf. folgende Themen: Lebensanfang, Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik, das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Neurobiologie und Ethik, Sterbebegleitung und Palliativmedizin, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sowie die ethischen Probleme der Organspende. Die Themenauswahl ist kursorisch. Eine systematische Darstellung der Begründungsprobleme und verschiedenen Konzeptionen heutiger Medizinethik fehlt. Zwar werden schon im ersten Hauptteil Verfahren der ethischen Entscheidungsfindung angesprochen. Die dortigen Hinweise auf medizinethische Beispiele (Sterbehilfe, Organspende, 65 f.68) sind aber für eine fundierte Medizinethik zu knapp. Das verbreitete Konzept des »Principlism« von T. Beauchamp und J. Childress ist dem Vf. nur einen kurzen Vermerk im Haupttext (54) und eine Fußnote (118) wert. Auch ist seine Argumentation nicht immer stringent. Z. B. abgesehen davon, dass die Frage, wann menschliches Leben beginnt, nicht mit derjenigen identisch ist, ab wann eine Mensch eine Person ist (108), zitiert der Vf. zunächst kommentarlos die Biologin Chr. Nüsslein-Volhard, nach deren Ansicht die Menschwerdung des Menschen erst mit der Geburt abgeschlossen ist (109), plädiert später jedoch für die Nidation als terminus a quo (118) sowie für eine Synthese von relationaler Ontologie und Substanzontologie (119 f.). Die Argumentation bleibt freilich unbefriedigend, ersetzt doch z. B. der Verweis auf ein Lied aus den Carmina Burana (120 f.) nicht die Arbeit am Begriff. Im Kapitel über Neurobiologie und Ethik vermisst man die Unterscheidung zwischen Wahlfreiheit, Willensfreiheit und Handlungsfreiheit, wie sie in der einschlägigen Literatur zum Thema verzweigt diskutiert wird. Und auch zu Luthers Lehre vom un­freien Willen sollte man von einem theologischen Buch doch wenigstens einige Sätze erwarten dürfen.
Der theologische Schlussteil bietet meditative Reflexionen zu Sünde, Tod und Auferstehung sowie zum Leben und zum evangelischen Verständnis der Heiligen. Hier ist das Buch nun wirklich Lesebuch, nicht Lehrbuch. Gewiss: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Doch wäre weniger mehr gewesen.