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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1377–1380

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Oexle, Otto Gerhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 373 S. m. 24 Abb. gr.8° = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 228. Geb. EUR 54,90. ISBN 978-3-525-35810-8.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Der hier zu besprechende Aufsatzband »Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit« geht zurück auf ein im Sommer 2001 am Max-Planck-Institut in Göttingen veranstaltetes Kolloquium. Bei diesem Kolloquium sollte jener Zeitraum von 1880–1932 in den Blick genommen werden, der, wie der Herausgeber des Bandes, der langjährige Direktor am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, Otto Gerhard Oexle, zu Recht betont, »mit der Entstehung einer Historischen Kulturwissenschaft einen epochalen Um­bruch darstellte und diesen reflektierte« (7). Der in diesem Zeit­raum immer deutlicher werdende Plausibilitätsverlust der ge­schichtsphilosophischen Grundannahmen des Historismus führte zu einer Grundlagenreflexion über das historische Denken, die zeitgemäße Antworten zur Folge hatte, von denen einige in dem Band eingehend untersucht werden. Ernst Troeltsch hat diese Grundlagendiskussion im Zeichen der Verunsicherung als Krise des Historismus bezeichnet. Obwohl zu dieser Krise bereits grundlegende Veröffentlichungen erschienen sind, ist der Sammelband mit seinem disziplinenübergreifenden und problemgeschichtlichen Ansatz eine Bereicherung der Forschung. Dabei liefern die einzelnen Beiträge nicht nur eine Rekonstruktion der Problemlage und der einzelnen Antworten auf diese Problemlage, sondern die zehn Beiträge des Bandes sind bemüht, die historische Debatte stets zu reaktivieren, d. h. die Ergebnisse der einzelnen Studien sollen als Argument in die aktuelle Selbstreflexion der Wissenschaften einfließen. Probleme in diesem Sinne sind nicht die Probleme einzelner Historiker oder einzelner Disziplinen, sondern es geht um »disziplinenübergreifende Problemstellungen« wie die »Pluralisierung der Wirklichkeitsvorstellungen und die Frage nach der ›Objektivität‹ wissenschaftlicher Erkenntnis« (7).
Nicht nur wegen seiner Länge – der Beitrag umfasst 105 Seiten – kommt dem Beitrag von Oexle eine programmatische Bedeutung für den ganzen Band zu. Thematisch geht es in ihm um die Entstehung, Entwicklung und die Folgen der »umfassenden Historisierung der Welt, des Menschen und aller Dimensionen seiner Kultur« (26). Oexle bezeichnet diese bewusste Geschichtlichkeit zu Recht als ein »spezifisches und konstitutives Moment der Moderne« (ebd.) und definiert sie im Anschluss an Ernst Troeltsch als Historismus, dessen Genese in der Aufklärung liegt. Zwei zentrale Zeitkategorien markieren den Beginn des spezifisch historischen Zeitverständnisses: der Begriff neue Zeit und die Fortschrittskategorie, mit deren Hilfe die drei Zeitdimensionen, Vergangenheit, Ge­genwart und Zukunft, in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht wurden. Diese Verzeitlichung der Geschichte »ist die Grundlage von Geschichte als Wissenschaft in der Moderne geworden, hat aber auch die Lebenswelt der Moderne in fundamentaler Weise geprägt« (27). Kenntnisreich beschreibt Oexle dann einzelne Indikatoren des Historismus in der Philosophie, der Wissenschaft, der Kunst und Literatur. Mit Recht weist er in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Untersuchung der Genese und der Entwicklung des historischen Denkens in der protestantischen Theologie im 18. und frühen 19. Jh. ein dringendes Forschungsdesiderat ist.
Mit der Historisierung und der Verwissenschaftlichung des Denkens wurde die Frage nach der Wirklichkeit der Erkenntnis zu einer brennenden Frage, die im 19. Jh. eingehend diskutiert wurde. Die entsprechenden Positionen von Ranke, Droysen und Nietzsche, aber auch die der neuen empirischen Naturwissenschaft, die ihre Ergebnisse als unumstößliche Tatsachen ansah, werden von Oexle sachgerecht dargestellt und dann konsequent auf die eigentliche Thematik des Beitrages, die Krise des Historismus, bezogen. Auch die Ausführungen über die ab 1880 neu entstehende Historische Kulturwissenschaft (z. B. Max Weber), die als Wirklichkeitswissenschaft in der Tradition von Kant in einen Gegensatz zur herrschenden geschichtswissenschaftlichen Arbeit trat, dienen Oexle dazu, die einzelnen Momente der Krise des Historismus, die von ihm ab 1880 datiert wird, entsprechend nachzuzeichnen. Die Krise des Historismus besteht für ihn nicht nur im Unbehagen an einer unermüdlichen Wissensproduktion im positivistischen Sinne, sondern vor allem in der Diskrepanz zwischen dem Sinnbedürfnis der Zeitgenossen und dem unzureichenden Sinnangebot der Wissenschaft. Zu dieser Krise kam um die Jahrhundertwende noch eine Krise der Wirklichkeit hinzu, die zu einer Auflösung der Natur führte. Hier muss besonders der Name von Albert Einstein und die Kontroverse um seine Relativitätstheorie genannt werden. Eingehend werden beide Krisen und die unterschiedlichen Positionen von Oexle dargestellt. Die Machtergreifung der Nationalsozia­listen führte dann zu einer Ent-Problematisierung der Krise des Historismus, die auch nach 1945 ihre Fortsetzung fand, bis sich Ende der 60er Jahre ein neues Paradigma innerhalb der Geschichtswissenschaft, die Historische Sozialwissenschaft, in den Vordergrund schob. Hier finden sich auch die bekannten Kritikpunkte Oexles an Meineckes Historismusbegriff.
Wenngleich eine Untersuchung des vieldeutigen Begriffs Historismus sicher im Hinblick auf eine Reaktualisierung der damaligen Fragestellungen in dem Beitrag zweckdienlich gewesen wäre, so ist doch die Deutung der bewussten Geschichtlichkeit des Denkens seit dem 18. Jh. unter Verwendung der Historismusdefinition Troeltschs durch Oexle plausibel. Allerdings ist die Frage bislang nicht hinreichend geklärt, ob es nicht sinnvoller ist, zwischen dem historischen Denken der Aufklärung und dem Historismus als Denkform vor allem des 19. Jh.s zu unterscheiden, denn bekanntlich gibt es deutliche Unterschiede zwischen dem historischen Denken beider Epochen, die noch deutlicher zu Tage treten, wenn man den Beginn der Historisierung des Denkens in der Frühaufklärung berücksichtigt. Denn nicht das Bewusstsein einer neuen Zeit und deren Deutung unter Verwendung der Fortschrittskategorie markierten den Beginn der Historisierung des Denkens, sondern die Einsicht in die Differenzqualität von Zeit, die in die Früh­aufklärung zu datieren ist.
Ästhetische Aspekte der Krise des Historismus beleuchtet Jo­hannes Heinßen in seinem Beitrag. Zu Recht betont er, dass die sich spätestens seit 1890 entfaltende Krise des Historismus eine Folge »der Verflüchtigung totalitätssuggerierender Deutungsmuster idealistischer Provenienz, die sich unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Modernisierung als qualitativ untauglich erweisen, die vorhandene Wirklichkeit gedanklich befriedigend zu ordnen und zu beschreiben« (123 f.) ist. Dies hatte Konsequenzen für die Ästhetik. Für Heinßen ist die Krise des Historismus eine Krise der bisher herrschenden Ästhetik. In ihrem lesenswerten Beitrag geht Magdalena Bushart der Einführung der Psychologie als Mittel der historischen Erinnerungsarbeit um 1900 nach. Mit dem bekannten Historismus-Streit zwischen Gustav Schmoller und Carl Menger und der Begründung der politischen Ökonomie als einer sozialwissenschaftlichen Disziplin durch Schmoller beschäftigt sich dann Aliki Lavranu. Die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen dem Budapester und dem Berliner Historismus erörtert Reinhard Laube. Bindeglied dieser beiden »ästhetisch inszenierten und geistesgeschichtlich flankierten Geschichtskulturen« (209) war Karl Mannheim, der ursprünglich Mitglied des bekannten Budapester Sonntagskreises war und nach seiner Emigration nach Deutschland zum Beobachter des Berliner Historismus und zu einem maßgeblichen Vertreter der Sozialwissenschaften wurde. Im Budapester Sonntagskreis wurden ab 1915 zentrale Fragen historischer Erinnerungsarbeit diskutiert, wie z. B. die »Unhintergehbarkeit moderner Multiperspektivität« oder die »Unerfaßbarkeit einer wirklichen Wirklichkeit« (211).
Erwähnenswert sind neun Karikaturen des Zeichners Tibor Gergely, die hier in dem zu besprechenden Band zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Die Geschichte der Literaturwissenschaft in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s behandelt dann der Germanist Holger Dainat. Ausgehend von der Romantheorie von Georg Lukács beleuchtet Dirk Niefänger den Zusammenhang zwischen der Krise des Historismus, der Krise der Wirklichkeit, der Kulturwissenschaft und dem neuen Roman. Niefänger betont zu Recht, dass der neue Roman des 20. Jh.s in Bezug auf die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft eine komplementierende Funktion übernimmt. Der durch die neuen Thesen über Kausalität und Wirklichkeit (Relativitätstheorie und Quantentheorie) ausgelösten Krise der Wirklichkeit und ihrer theoretischen Be­handlung in der Philosophie Ernst Cassirers geht Michael Hänel in seinem Beitrag nach. Angesichts des Bedeutungsverlustes, den die religiöse Weltdeutung im Laufe des 19. Jh.s erfuhr, und den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften entwickelte sich die Frage nach der Wirklichkeit zu einem brennenden Problem. Mit seiner Unterscheidung zwischen Wissenschaft, Kunst, Mythos usw. verschaffte Cassirer einer pluralen Wirklichkeitsdeutung Geltung. Mit den Wandlungen in der juristischen Wirklichkeitswahrnehmung 1880–1932 be­schäftigt sich Oliver Lepsius. Ihm zufolge war spätestens um 1900 die »Einheit von Geltung und Wirksamkeit des Rechts, von Sollen und Sein, von Gegenstand und Methode« (329) zerstört mit den entsprechenden Folgen für den Wirklichkeitsbegriff. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit wird nun auch als ein erkenntnistheoretisches Problem verstanden. Hier spielte der Neukantianismus eine zentrale Bedeutung. Das Recht wird nun als selbständige Wirklichkeit verstanden. Ab 1920 setzte dann eine neue Phase juristischer Wirklichkeitswahrnehmung ein, die durch die Rezeption unterschiedlicher Seinsphilosophien gekennzeichnet ist. Ein Ziel dieser Phase war die Wiedererlangung der verloren geglaubten Wirklichkeit. Hans-Jörg Rheinberger behandelt schließlich den Wandel der Auffassung über die Historizität wissenschaftlichen Wissens bei Ludwik Fleck und Edmund Husserl.
Auf den ersten Blick behandeln die zehn Beiträge recht unterschiedliche Themenstellungen; doch wird hier in den Beiträgen das Thema Krise des Historismus und Krise der Wirklichkeit von den verschiedenen Seiten mit Erfolg angepackt. Der Band vermittelt eine Fülle von Informationen auf konzentriertem Raum und bringt wichtige Anstöße zur weiteren Diskussion. Bedauerlich ist allerdings, dass ein eigener Beitrag zur Theologie fehlt.