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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1370–1372

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Anz, Thomas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Literaturwissenschaft. 3 Bde.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2007. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. XIV, 509 S. Bd. 2: Methoden und Theorien. VI, 497 S. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder. VI, 420 S. gr.8°. Geb. EUR 199,95. ISBN 978-3-476-02154-0.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

In den Kulturwissenschaften haben Handbücher wieder Konjunktur. Allein zum Sachgebiet der Literatur sind wichtige Werke erschienen, die darauf abzielen, angesichts rezenter Entwicklungen nicht den Überblick zu verlieren (vgl. z. B. das Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen [Hrsg. v. D. Burgdorf, Ch. Fasbender, B. Moennighoff] Stuttgart-Weimar 32007; das unter http:// www.literaturkritik.de erreichbare literaturwissenschaftliche On­linelexikon; das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte], Bde. 1–3, hrsg. v. K. Weimar u. a., Berlin-New York 32007). In der Tat scheint nach einer Phase unvorhersehbarer methodischer Auf- und Abbrüche die Zeit gekommen, ein vorläufiges Resümee zu ziehen und zwischen empfehlenswert Bleibendem und erwartbar Vorübergehendem zu unterscheiden.
Für die exegetische Arbeit haben die Entwicklungen im Bereich von Literaturtheorie und -wissenschaft zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zwar sind trotz des klassisch gewordenen Plädoyers von Rudolf Bultmann – »Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur« – ein literaturwissenschaftlich begründeter Um­gang mit biblischen Texten, ihre Kommunikation als Literatur im Kontext anderer, auch gegenwärtiger Literaturen noch keine me­thodologisch begründete und hermeneutisch abgesicherte Selbstverständlichkeit. Trotz der hohen Bedeutung literaturtheoretischer Voraussetzungen für die Entwicklung der historisch-kritischen Methodologie ist der Hauptakzent zumindest neutestamentlicher Interpretationsarbeit traditionell historisch bestimmt, sind literarkritische, form- und redaktionsgeschichtliche Methoden dem dominanten Paradigma der historischen Rückfrage nach der hinter den Texten liegenden Geschichte integriert. Ein wachsendes exegetisches Problembewusstsein führt jedoch zu einer zunehmenden Rezeption literaturtheoretischer Modelle und zu inspirierenden Ergebnissen ihrer Anwendung.
Mit dem dreibändigen Handbuch Literaturwissenschaft ist nun eine solide Informationsquelle ersten Ranges zugänglich, die zu Recht mit enzyklopädischem Anspruch auftritt. Das Handbuch vereinigt nicht nur verschiedene Schulen und Sichtweisen, sondern annähernd 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, unter ihnen ausgewiesene Kenner ihrer Materie und über ihre Fachgrenzen hinaus bekannte Namen. Das verhindert zwar nicht einige Ni­veauunterschiede (problematisch wirken z. B. der elitäre Kulturbegriff und eine entsprechende Sicht auf ›Bildungsferne‹ in 1,17–20) oder vermeidbare Redundanzen (der Ansatz z. B. des new historicism wird mehrfach referiert) sowie leichte Unausgewogenheiten (trotz eines Abschnitts zur ›Politik als Kontext der Literatur‹ [1,419–425] hätte sich angesichts neuester Entwicklungen m. E. ein Beitrag zur Beziehung zwischen Literaturwissenschaft und Politologie ge­lohnt; das Problemfeld der Fiktionalität [1,12–14] wird – mit Hinweis auf eine veränderte Fragestellung [s. u.] – erstaunlich knapp behandelt), trägt aber zu einer stets anregenden und informativen Lektüre bei. Dabei ist die gewaltige systematisierende und integrierende Leistung zu berücksichtigen, die angesichts disparater und schwer überschaubarer literaturtheoretischer Entwicklungen für dieses Handbuch aufzubringen war.
Der erste Band informiert über Gegenstände und Grundbegriffe der Literaturwissenschaft: Was sind die Elemente literarischer Kommunikation; wie sind literarische Texte erkenn- und klassifizierbar; welche Autor- und Leserinstanzen sind zu unterscheiden; was bedeutet Medialität von Literatur; welche Institutionen der Literaturvermittlung, welche rechtlichen und ökonomischen Be­dingungen, welche Kontexte in Gesellschaft, Kunst und Wis­senschaft gibt es; wie ist das Verhältnis von Literatur zu Rhetorik, Poetik und Ästhetik zu bestimmen? Der zweite Band referiert grundlegende Methoden und Theorien der Interpretation von Texten und Textarten, stellt die Probleme der Editions- und Computerphilologie dar und informiert umfassend über Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft mit ihren Theorien und Methoden sowie über ihre Beziehung zu verschiedenen (inkl. naturwissenschaftlichen!) Nachbardisziplinen. Der dritte Band ist durchaus praktisch orientiert; hier geht es um die institutionelle und berufliche Seite der Literaturwissenschaft, um ihre Geschichte, gegenwärtige Institutionen und Praxisfelder sowie um Kernkompetenzen literaturwissenschaftlicher Professionalität. Der Band enthält die Indizes für das Gesamtwerk: Abkürzungen; Gesamtinhaltsverzeichnis; Index der Autorinnen und Autoren; Sach- und Personenregister.
Das Gesamtwerk zeichnet sich durch gute Handhabbarkeit aus. Das entspricht der angestrebten Benutzerfreundlichkeit auch für Studierende. So wird das ausführliche und differenzierte Referat der ›Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft‹ (2,285–371) regelmäßig durch einen praxisorientierten Abschnitt zur entsprechenden Interpretationsmethode beendet. Jeder Einzelabschnitt des Gesamtwerkes wird von weiterführenden Literaturhinweisen abgeschlossen (dadurch müssen freilich einige Redundanzen in Kauf genommen werden).
Der Sachindex lässt manchen Benutzerwunsch offen; er ist offensichtlich mechanisch zu Stande gekommen. Während wichtige Stichworte entsprechend ihrem Gebrauch im Text in unterschiedliche indexikalische Platzhalter aufgefächert sind (vgl. z. B. ›perform-‹), finden sich andere nicht, obwohl sie sachlich weiterführen würden. So gibt es zwar einen Eintrag zu ›Fronleichnamspiel‹, nicht aber zu ›Fastnachtsspiel‹ (vgl. aber 1,386) oder Oster- bzw. Mysterienspiel.
Die neuen Perspektiven der Cognitive Poetics, der Frage also, wie, unter welchen Wirklichkeitsannahmen, -projektionen und -veränderungen der mentale ›Dialog‹ zwischen Text und dem involvement realer Rezipienten bestimmter kultureller Formationen zu rekonstruieren ist, werden aus verschiedenen Blickwinkeln angesteuert (vgl. zu diesem Themenfeld 1,12–14; 2,334; aber auch 2,456). Leider gibt es hier keine einheitliche Terminologie; der Sachindex verweist unter Cognitive Poetics lediglich auf 2,334, an der Stelle selbst fehlen Querverweise.
Möglicherweise wäre dem Handbuch eine entschlossenere In­terdisziplinarität gut bekommen. Eine kulturwissenschaftliche Ver­ortung der Literaturwissenschaft (vgl. z. B. jetzt F. Schößler, Lite­raturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Tübingen-Basel 2006) spricht für die Möglichkeit, Beziehungen zu dieser Disziplin aus der Perspektive der Partnerdisziplinen darzustellen. So könnte es gelingen, etwa die Beiträge zur Theologie (2,433–438; vgl. ähnlich den Beitrag zur [sc. lediglich christlichen!] ›Religion‹ als Kontext von Literatur [1,382–395]) oder Philosophie (2,439–448) aktueller und ausgewogener zu halten; den Artikeln zu Geschichtswissenschaft (2,449–458) oder Kulturwissenschaften (2,459–469) gelingt das überzeugend.
Biblische Texte partizipieren wie alle Literatur an der kollektiven Welterschließung einer Gesellschaft. Die Interpretation dieser Texte, die der falschen Alternative von historistischer oder fundamentalistischer Textauslegung entgehen und nicht einer kulturalistischen Vergleichgültigung dieser Texte zuarbeiten will, ist auf solide literaturtheoretische Grundierung angewiesen. Das Handbuch Literaturwissenschaft bietet dafür ein erstklassiges Hilfs­mittel.