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Ausgabe: | Dezember/2008 |
Spalte: | 1365–1368 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte |
Autor/Hrsg.: | Zeiß-Horbach, Auguste |
Titel/Untertitel: | Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. |
Verlag: | Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 462 S. gr.8°. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-02604-3. |
Rezensent: | Hasko von Bassi |
In Reaktion auf den sich Ende des 19. Jh.s verstärkt ausbreitenden Antisemitismus gründeten aufgeklärte bürgerlich-liberale Kreise in Deutschland 1890 den »Verein zur Abwehr des Antisemitismus«. Führende Mitglieder waren u. a. Theodor Mommsen, Heinrich Mann, Hugo Preuß, Theodor Barth und Heinrich Rickert. Aber auch eine Reihe von Theologen engagierte sich im Verein.
Angeregt durch den leider viel zu früh verstorbenen Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak hat sich die bayerische Pfarrerin Auguste Zeiß-Horbach in ihrer Dissertation daran gemacht, die Geschichte des »Vereins zur Abwehr des Antisemitismus« (1890–1933) (VAA) zu rekonstruieren. Nach dem Tode Nowaks wurde die Arbeit von Klaus Fitschen weiter betreut. Sie schließt ein seit Langem bestehendes Desiderat. Wohl gab es eine Reihe verdienstvoller Einzeluntersuchungen, auch einen ersten Versuch einer größeren zusammenhängenden Skizze durch die Düsseldorfer Historikerin Barbara Suchy in den Jahren 1983/1985, aber eine Gesamtdarstellung fehlte. Das war umso deutlicher zu spüren, als im Zuge der seit den 70er Jahren des vergangenen Jh.s intensivierten Erforschung des sog. liberalen Protestantismus und seiner hervorragenden Repräsentanten an vielen Stellen die Rede auf den Verein kam, ohne dass es ein verlässliches Referenzwerk gegeben hätte. So ist allein die Tatsache, dass ein solches nun existiert, mit Dankbarkeit zu vermelden.
Im Detail freilich bereitet die Arbeit manchen Kummer.
Die Vfn. teilt ihre Studie in vier große Abschnitte. Nach der »Einleitung« (I) folgt ein historischer »Überblick über die Vereinsgeschichte« (II), an den sich ein systematischer Teil zum Thema »Werte und Einstellungen im VAA« (III) anschließt. Fast die Hälfte des Buches ist dann dem vierten Teil »Evangelische Pfarrer und Theologen im VAA« (IV) gewidmet. Schon hier deutet sich ein Problem an, das die gesamte Darstellung durchzieht. Denn die Mischung eines historischen, eines systematischen sowie eines wesentlich biographisch orientierten Ansatzes (IV) führt zu Doppelungen und Brüchen im Verlauf der Darstellung. So wird etwa Pfarrer Gräbner zweimal behandelt, einmal unter dem Aspekt der Vereinsgeschichte und einmal in seiner Eigenschaft als Theologe im VAA. Und natürlich werden auch die »Werte und Einstellungen im VAA« (III) durch die theologischen Mitglieder des Vereins zumindest mitgeprägt, so dass die Darstellung durch Rückbezüge und Vorverweise nicht ganz stringent ist.
Der historisch gehaltene Abschnitt II zur Vereinsgeschichte wird durch Einschübe unterbrochen, wie etwa einen Abschnitt über das Wirken des VAA in Sachsen-Weimar-Eisenach, Letzteres deshalb ein Gegenstand eigener Darstellung, weil hier ausnahmsweise einmal eine gute Quellenlage herrscht, anders als sonst, wo die Vfn. meist darlegen muss, dass die meisten einschlägigen Dokumente vernichtet wurden oder verschollen sind (»soweit es die Quellenlage erlaubt«; »aufgrund fehlender Quellen«; »Die Quellenlage für diese Frage ist schlecht« etc.).
Es wird nicht recht einsichtig, weshalb die Vfn. den Gang der historischen Darstellung immer wieder (eigentlich ohne Not) unterbricht. So werden, »um ein lebendigeres Bild der Vereinsarbeit zu erhalten«, einsetzend mit dem Jahre 1890, »vier engagierte Männer« (nach welchen Kriterien ausgewählt?) vorgestellt, um dann 50 Seiten später mit einer Würdigung der Vereinsvorsitzenden fortzufahren, und zwar wiederum, »um ein lebendigeres Bild der Vereinsarbeit zu erhalten«, und wiederum einsetzend mit dem Gründungsjahr 1890.
Rätselhaft bleibt die innere Struktur des Abschnittes über »Werte und Einstellungen im VAA« (III), scheint er sich doch lediglich in einen thematischen Abschnitt 1 »Ort der Juden in der deutschen Kultur und Nation« und 2. eine Darstellung der »Argumentation des VAA« mit dem vollends unklar bleibenden Zusatz »Zusammenfassung« zu gliedern. Im Übrigen war das, was im Abschnitt 1 entfaltet wird, auch die »Argumentation des VAA«. Der Zusammenfassung über die »Evangelischen Pfarrer und Theologen im VAA« (IV) hängt die Vfn. noch eine »Würdigung der Vereinsarbeit« an, die hier falsch beziffert ist, da sie sich tatsächlich auf das ganze Buch bezieht.
Ganz offensichtlich hat die Vfn. selbst kein besonderes Zutrauen zur Plausibilität ihres Darstellungsganges. Denn sie verfährt so, dass sie an allzu vielen Stellen ihres Buches jeweils ankündigt, was sie danach zu tun gedenkt: »Im Folgenden soll ..., im Folgenden wird ...«. Vor allem in den Abschnitten III und IV gelingt der Vfn. eine systematische Aufarbeitung nur in Teilen. Immer wieder bietet sie stattdessen ausführliche Paraphrasen von Beiträgen einzelner VAA-Mitglieder, was verdienstvoll ist, nur in dieser Fülle denn doch etwas ermüdet. Um nicht missverstanden zu werden: Die Studie ist äußerst materialreich und nützlich. Es ist ihr nur keine fortlaufende Darstellung gelungen. Das Ganze hat den Charakter eines umfassenden Kompendiums zur Geschichte des Vereins, speziell zum Wirken der Theologenzunft in ihm. Als Nachschlagewerk aber hätte die Arbeit unbedingt eines Namenregisters bedurft, auf dessen Erstellung die Vfn. leider verzichtet hat. Die Benutzbarkeit leidet darunter doch etwas.
Die Vfn. ordnet die Theologen, die sich im VAA engagierten, dem liberalen Lager zu. (Katholische Theologen waren kaum vertreten.) Was diese theologische Zuordnung betrifft, so bleibt dort manches recht vage. Trotz der Bezugnahme auf Friedrich Wilhelm Grafs grundlegende begriffsgeschichtliche Arbeiten wird der Begriff der »liberalen Theologie« von der Vfn. holzschnittartig verwendet: »gemäß der liberalen Theologie« (279), »vertrat eine liberale Theologie« (329), »öffnete sich der liberalen Theologie« (341), »gehörte zu den liberalen evangelischen Pfarrern« (354).
Unscharf bleibt auch der Begriff der »nationalen Idee« (356) bzw. des »nationalen Gedankens«, mit dem die Vfn. an einer Reihe von Stellen operiert und den sie offenbar als einen Gegensatz zu fundamentalen christlichen Einsichten versteht, etwa wenn sie feststellt: »Vergleicht man die Einstellung der im VAA aktiven Theologen zum nationalen Gedanken, so wird erkennbar: Je weniger evangelische Theologen diese Kategorie emporhoben, umso weniger wurden ureigene christliche Werte wie die Nächstenliebe verdrängt.« (352) – Die Strategie des VAA war die der rational begründeten Aufklärungsarbeit. Juristisches Vorgehen gegen den Antisemitismus blieb die Ausnahme.
In der Rationalität der Argumentation des VAA lag natürlich auch eine Schwäche, setzte sie doch einen diskursfähigen Gegner voraus. An diesem Punkt ist beim Antisemitismus naturgemäß Fehlanzeige zu konstatieren. Der Verlagsbuchhändler Walter de Gruyter, Schatzmeister des VAA, betonte deshalb zu Recht: »Man sehnt sich ordentlich danach, endlich mal einen wirklichen Antisemiten zu finden, mit dem eine anständige Auseinandersetzung möglich wäre.« (112) Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten endete zwangsweise jeder Diskurs und also auch die Tätigkeit des VAA. Kurz zuvor war in den Vereinsmitteilungen geradezu prophetisch formuliert worden: »Man kann den Führern der nationalsozialistischen Partei in ihrem eigenen Interesse, freilich noch mehr um Deutschlands willen, nur wünschen, dass sie niemals allein die Macht in Deutschland in die Hände bekommen. Denn wenn ihre verhetzten Anhänger sie beim Wort nehmen würden, dann hätten sie wohl alle Hände voll zu tun, um die von ihnen gerufenen Geister des Hasses und der rohesten Barbarei wieder loszuwerden; und was geschähe, wenn ihnen das nicht gelingt, das wagt man gar nicht auszudenken.« (78)
Manche Feststellungen der Studie erscheinen merkwürdig ahistorisch. Wenn die Vfn. ausdrücklich vermerkt, dass der Verein »auf der Ebene der Sprache vom Zeitgeist beeinflusst« war (248), fragt man sich: »Wie auch nicht?« Ähnliches gilt, wenn die Vfn. die Schrift eines Vereinsmitglieds aus dem Jahre 1917 referiert und verblüfft feststellt: »Dabei werden auch nationale Töne laut« (356). Wiederum: »Wie kann es anders sein?« Das gilt auch für den Geist des August 1914: »Den im VAA aktiven Pfarrern war die deutsche Nation wichtig. Das zeigt ihre Begeisterung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs.« (420) Diese Begeisterung gab es selbstverständlich auch bei Deutschen jüdischen Glaubens. Irritierend ist das Verdikt der Vfn. über Otto Baumgarten, einen der prominentesten Theologen im VAA, dem sie attestiert, »nicht völlig frei von antijüdischen Vorurteilen« zu sein, da »die jüdische Religion ... bei ihm im Wert unter der christlichen« stehe. Dass ebendies schlicht und einfach ein theologisches Urteil sein kann (und bei Baumgarten tatsächlich auch ist), wird offenbar nicht bedacht.
Nur schwer nachvollziehbar ist es, wenn die Vfn. Dietrich Graue eine »Rechtfertigung nationalsozialistischer Ansichten« unterstellt und zum Beleg dafür Passagen aus seiner 1936 (!) gehaltenen Abschiedspredigt anführt, die tatsächlich das direkte Gegenteil belegen, wenn man sie denn im historischen Kontext liest und bedenkt, was unter den Bedingungen einer mörderischen Diktatur gesagt werden konnte und was nicht: »Die staatliche Disziplin, von der im neuen Deutschland jedermann, ob er wolle oder nicht, erfasst wird, steht der herrlichen Freiheit nicht im Wege, mit der wir durch unsern Glauben beglückt werden. Und unsere innere Freiheit steht nicht dem Willen des Staates entgegen. Im Gegenteil! Unser Volk kann die gewaltigen Aufgaben, die Gegenwart und Zukunft uns stellen, nur dann lösen, gut und glückhaft lösen, wenn es bei uns überall innerlich befreite, schöpferisch tätige Menschen gibt. Das ist der große Beitrag, den das Christentum für den Aufbau des deutschen Volkes leistet.« (375 f.)
Nicht wirklich überzeugend ist es auch, wenn die Vfn. den Pfarrernotbund hinsichtlich des Kampfes gegen den Antisemitismus als einen »Kreis gleichgesinnter Theologen« (397) bezeichnet, was er gerade im Blick auf dieses Thema nun gewiss nicht war. Richtig bemerkt die Vfn. an anderer Stelle denn auch: »Die Bekennende Kirche selbst hatte keine einheitliche Haltung in der ›Judenfrage‹ und war nicht frei von problematischen Äußerungen gegenüber den Juden.« (413)
Störend für die Lektüre ist neben der einen oder anderen syntaktischen Unebenheit, dass die lebenden Kolumnentitel durchgehend falsch angeordnet sind. Anders als im vorliegenden Buch hat der Kolumnentitel höherer Ordnung links, der niederer Ordnung rechts zu stehen, dies schlicht deshalb, weil wir von links nach rechts lesen.
Beeindruckend viele archivalische Quellen wurden erschlossen und die Sekundärliteratur wurde umfassend ausgewertet. Ergänzend hinweisen könnte man allenfalls auf: Hauke Wattenberg, Friedrich Andersen. Ein deutscher Prediger des Antisemitismus, Flensburg 2004, sowie auf Ulrich Oelschläger, Judentum und evangelische Theologie 1909–1965, Stuttgart 2005. Speziell zu Emil Felden siehe auch: Karlheinz Lipp, Religiöser Sozialismus und Pazifismus, Pfaffenweiler 1995. Leider hat die Vfn. darauf verzichtet, das Literaturverzeichnis zu gliedern und es einerseits nach Quellen und zeitgenössischer Literatur und andererseits nach Sekundärliteratur zu unterteilen. Für die Weiterarbeit wäre das hilfreich gewesen.
Es hätte der Arbeit wahrscheinlich gutgetan, wäre sie in einer wissenschaftlichen Reihe erschienen und dadurch noch von Herausgebern begutachtet worden, die für die Buchpublikation den einen oder anderen Gestaltungshinweis hätten geben können. Zudem leidet die Arbeit unter mancherlei Versehen und terminologischen Unklarheiten. Eine Corrigenda-Liste kann bei Bedarf vom Rezensenten erbeten werden.
Ungeachtet der kritischen Anmerkungen hat die Vfn. mit ihrer Studie wichtige und dankenswerte Pionierarbeit geleistet, die weiteren Forschungen zugute kommen wird.