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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1363–1365

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bearb. v. G. Goldbach unter Mitarbeit v. B. Perkams. Hannover

Titel/Untertitel:

Die Rundschreiben der Deutschen Christen Hannovers 1934–1940 im Landeskirchlichen Archiv Hannover.

Verlag:

Lutherisches Verlagshaus 2006. 576 S. 8°. Kart. EUR 69,90. ISBN 978-3-7859-0967-6.

Rezensent:

Siegfried Hermle

Es ist verdienstvoll, wenn ein Archiv seine Schatztruhen öffnet und einen bislang lediglich vor Ort einsehbaren Bestand Interessierten in einer Edition zugänglich macht. Besonders verdienstvoll ist es, wenn dabei Dokumente publiziert werden, die ein Thema der Kirchlichen Zeitgeschichte betreffen, das bislang nur wenig durch zusammenhängende Textkorpora erschlossen ist. Die Edition der »Rundschreiben der Deutschen Christen Hannovers«, die zwischen 1934 und 1940 – wenn auch in unterschiedlicher Dichte (1935: 61 Rundschreiben, 1940: drei Rundschreiben) – erschienen, ist deshalb sehr zu begrüßen. Der Bearbeiter Günter Goldbach, der von Britta Perkams unterstützt wurde, bietet in einer Einleitung zunächst eine knappe Skizze des zeitgeschichtlichen Kontextes der Rundschreiben, wobei insbesondere die Situation in Hannover beleuchtet wird. Bischof Marahrens suchte zunächst mit den Deutschen Christen (DC) zusammenzuarbeiten, ehe es zum Bruch kam; am 2. November 1934 übernahm er »förmlich und rechtlich erneut seine sämtlichen Vollmachten und ›säuberte‹ in den folgenden Tagen die Leitung seiner Landeskirche von den Deutschen Christen« (19).
Die folgende rechtliche Auseinandersetzung spiegelt sich in den Rundschreiben sehr anschaulich; vehement wird beispielsweise ge­gen das die Rechtsposition Marahrens’ bestätigende Urteil des OLG Celle vom 5. März 1935 Position bezogen (vgl. RS 35/11–12). Nachvollziehbar wird anhand der Texte zudem die langsame An­näherung der hannoverschen DC an die Thüringer »Nationalkirchliche Einung«, bis es schließlich zur förmlichen Anbindung kam (vgl. RS 36/13–18), der jedoch nicht alle DC-Anhänger folgen wollten (vgl. RS 37/02–04).
In einem zweiten Abschnitt der Einleitung werden die führenden Persönlichkeiten der DC Hannovers vorgestellt, allerdings fehlen Angaben zu Bildungsgang und theologischem Profil. Wenn in Abschnitt 3 das kirchenpolitische Konzept vorgestellt und dabei insbesondere die Volksmission als das Kennzeichen der Arbeit der hannoverschen DC herausgestellt wird, so ist der Blick zu sehr auf Hannover fokussiert, ist doch ›Volksmission‹ für die DC insgesamt ein »Zauberwort« in Hinblick auf die geplanten Aktivitäten (vgl. den Beitrag des Verfassers in ZKG 108 [1997], 309–341). Im dem die Einleitung beschließenden Teil – »Die Theologie der Deutschen Christen Hannovers« überschrieben – wird auf Ausführungen von Notger Slenczka und Hans-Joachim Sonne verwiesen. Herausgestellt wird, bei der deutsch-christlichen Theologie handele es sich »um den Typus einer kontextuellen Theologie«, die versuche, der »Erfahrung eines Relevanzverlustes des christlichen Glaubens ... mit den Vorgaben des gegenwärtigen Kontextes« abzuhelfen (29). Allerdings wird diese These nun aber nicht an dem reichen Material, das die Rundschreiben bieten, exemplifiziert, sondern unter Rückgriff auf bei Slenczka genannte Schriften von Joachim Hossenfelder und Imanuel Schairer. Auch die in Aufnahme von Sonne formulierte These, dass man »die Selbstbezeugung Gottes außerhalb Christi ... als den theologischen Generalnenner der Deutschen Christen zu bezeichnen« habe (30), wird nur sehr ansatzweise an den edierten Texten belegt. Möglicherweise hängt es mit diesem Zugang über die Sekundärliteratur zusammen, dass erstaunlicherweise in der Einleitung die Rassenfrage nur ganz am Rande auftaucht. Sollte bei den DC Hannovers der Antisemitismus, sollte die Frage nach einem Arierparagraphen in der Kirche oder dem Ausschluss sog. Judenchristen aus der Kirche keine Rolle gespielt haben? Weit gefehlt! In den Rundschreiben ist dieses Thema natürlich allgegenwärtig – man vergleiche nur einige Rundschreiben des Jahres 1935: »Kampf gegen die Juden!« (286), »Zur Judenfrage« (298. 391), »Nur eine Geschmacklosigkeit?« (Thema Judentaufe, 316), »Forderungen zur Judenfrage« (343; weiter 430.465.471.486.491 u. ö.).
Über die speziell die hannoversche Landeskirche betreffenden Informationen hinaus werden zahlreiche Ereignisse in den Blick genommen, die die DEK-Ebene betreffen. So sind die Bewertungen der Reichsbekenntnissynoden von Barmen (54–57.67–71) oder Augsburg (244 f.262 f.) von besonderem Interesse. Zudem werden die Bekenntnissynode der Altpreußischen Union und ihr Kanzel­aufruf gegen das Neuheidentum vom März 1935 massiv kritisiert, ja diffamiert – »Schwerer Angriff der Bekenntnissynode gegen den Nationalsozialismus« (153) –, wobei interessanterweise das ganze Wort zum Abdruck gebracht wurde (163 f.; vgl. auch 180–183.198. 294–296). Um den staatsfeindlichen Charakter der Bekenntniskirche deutlich zu machen, wird auch ein Brief Karls Barths zur Eidesfrage den Mitgliedern vollständig zur Kenntnis gegeben (310–315).
Besondere Einblicke in die Ziele und die Taktik der deutschchristlichen Bewegung geben die mit »Bilanz« überschriebenen Texte bzw. die programmatische Stellungnahme im Umfeld des Jahreswechsels (88.320–326.339–341.430–432.510–513). Zudem sind in der ersten Hälfte des Jahres 1935 »Theologische Besinnungen« als ständige Rubrik eingerichtet, die einen guten Eindruck von der oberflächlichen, ganz auf die Zeiterfordernisse ausgerichteten Theologie dieser Gruppe gewähren (99.110.115.121.127 u. ö.).
Zu finden sind zudem Äußerungen zu politischen Ereignissen (Reichsparteitag 1935: 343) oder zum kirchenpolitischen Kurs der Machthaber: So wird beispielsweise in einer Sondernummer die Einsetzung eines Reichskirchenministers thematisiert (276 f.) und in der folgenden Ausgabe »Parteigenosse Kerrl« vorgestellt sowie der kirchenpolitische Kurs Hitlers erläutert (277–281). Die von Hitler 1937 angeordnete Kirchenwahl begegnet in den Rundschreiben als große Chance für die DC (450–455). Man habe nun die Gelegenheit, um »nach dem Stillstand der beiden letzten Jahre weiter zu kommen auf dem Wege zu einer religiösen Einigung unseres Volkes und zu einer einheitlichen und deutschen christlichen Kirche« (454). Das letzte Rundschreiben von 1940 ist ein »Merkblatt für den deutsch-christlichen Konfirmandenunterricht« (531–540), das un­ter der programmatischen Zeile »ein Volk – ein Glaube!« nochmals ein bezeichnendes Licht auf die Theologie der DC wirft, war doch gleich eingangs hervorgehoben: »Person und Botschaft Jesu sind nur im Gegensatz zum Judentum recht zu verstehen« (531).
Die Aufstellung vermag nur einen kleinen Einblick in die vielfältigen Themen zu geben, die in diesen 152 Rundschreiben aufgenommen sind. Leider ist zur Erschließung der Texte lediglich ein – freilich mit hilfreichen biographischen Angaben versehenes – Personenverzeichnis beigegeben; ein Stichwortver­zeich­nis fehlt. Zudem ist das Personenverzeichnis nicht ganz zu­verlässig, da in ihm zwar jene Seiten aufgenommen sind, auf denen z. B. Ludwig Müller erwähnt wird, nicht aber jene, wo ›Reichsbischof‹ zu finden ist (vgl. 178 f.205–209.222 f.). Uneinheitlich fällt auch der Nachweis von in den Rundschreiben genannten Dokumenten aus: Einige Fundorte sind angegeben (z. B. 45.54.67 oder 156), andere hingegen nicht (153, Kanzelaufruf in K. D. Schmidt, Die Bekenntnisse des Jahres 1935, 70–72). Im umfangreichen Literaturverzeichnis vermisst man gleichwohl Studien über die DC in anderen Landeskirchen (H. Baier: Bayern, R. Lächele: Württemberg), ebenso fehlt die Arbeit von G. Lindemann über die Stellung der Hannoverschen Landeskirche zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus.
Die vorgelegte Edition der »Rundschreiben der Deutschen Chris­ten Hannovers 1934–1940« ist eine auch über den Bereich der Landeskirche hinaus wichtige Quellenedition mit einer eindrück­lichen Materialfülle; gewünscht hätte man sich, dass die Edition etwas sorgfältiger ausgefallen wäre.