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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1359–1361

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hardtwig, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933.

Verlag:

München: Oldenbourg 2007. 566 S. 8° = Ordnungssysteme, 22. Geb. EUR 79,80. ISBN 978-3-486-58177-5.

Rezensent:

Alf Christophersen

Epochengrenzen sind keine Diskursgrenzen. Ob das 19. Jh. als kurz oder lang zu betrachten ist, mag zur Debatte stehen: Für die erste Variante spräche, so Wolfgang Hardtwig, die Perspektive politischer Kulturgeschichte, für die zweite der Zugriff politischer Ge­schichte. Doch welches Längenmaß auch bevorzugt wird: Am Be­fund, dass die klassische Moderne zwischen 1918 und 1933 ihre Krise zelebrierte, ändert diese Entscheidung nichts. Symbolische Jahreszahlen üben auf Geschichtsbilddesigner einen ordnenden Zwang aus, die eigentliche Struktur vergangener Zeiterfahrungen, Lebenswelten und Sprachkodierungen ist aber hinter ihnen verborgen und tritt erst dann hervor, wenn die geschichtliche Dynamik als Ergebnis ganz unterschiedlicher Gegenwartsgeschwindigkeiten begriffen wird. Viele Entwicklungen, für die die 1920er und 30er Jahre prägende Transformationsprozesse enthielten, nahmen ihren Anfang bereits um die Jahrhundertwende – deutlich vor dem Ersten Weltkrieg. Der zu besprechende Sammelband geht auf eine 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltete Tagung zurück, die Forschungsbeiträgen zur »Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1936« Präsentationsbühnen bot. Anthropologisch fixierbare Orientierungsmuster spiegeln sich in sechs Rubriken: »Menschen und ihr Raum: Grenzraum, Naturraum, kolonialer Raum« (19–112), »Zeiterfahrungen und Zeitkonzepte« (113–187), »Geschlecht – Körper – Emotion« (189–258), »Massengesellschaft und Individualität« (259–354), »Gewalterfahrungen und Gewaltstrategien« (355–422), schließlich »Die Krise der Ordnungen und das Bild« (423–559). Alle 21 Beiträge durchzieht das Wissen um die spannungsreiche Vielschichtigkeit des unermüdlich als Epochensignatur beschworenen Krisenbegriffs; denn zum einen werden mit ihm reale, etwa ökonomische und politische Prozesse gekennzeichnet, zum anderen ist »Krise« aber auch ein semantisch schillernder und rhetorisch aufladbarer Deutungsbegriff eines sich als gefährdet wahrnehmenden (nicht zuletzt theologischen) Geschichtsdenkens.
Die durchgängig ein hohes Niveau haltenden Aufsätze ziehen ihr Lesepublikum in den Bann. »Afrika vor den Toren. Deutsche Raum- und Ordnungsvorstellungen nach der erzwungenen ›Dekolonisation‹« heißt das Thema, mit dem sich der Carl Schmitt-Experte Dirk van Laak befasst. Der ›schwarze‹ Zukunftskontinent tritt in den Blick, als europäischer Fiktionsraum und Ort afrikanischer Realität konfrontiert mit immer neuen Projektionen, Planungen, Prognosen – bis hin zu der Pointe, dass »›Raum und Rasse‹ ... als deutsche ›Schicksalsfragen‹« auch im Rekurs auf Afrika entworfen werden konnten. Nur: »Forderungen nach einer geopolitischen Neuordnung und rassischen ›Gesundung‹ wurden nun nicht mehr für das exotisch Ferne, sondern für das europäische Zentrum selbst erhoben« (112). Unter der Raum-Perspektive führt Vanessa Conze die Ordnungsarchäologen in den »deutsche[n] Grenz-Diskurs der Zwischenkriegszeit (1919–1939)« ein, und Thomas Rohkrämer um­reißt »Konservative Raum- und Heimatvorstellungen 1900–1933«, wobei er schlüssig zeigt, dass den Propagandisten der deutschen Daseinsbindung an Boden und Brauchtum nicht der kontemplativ-bewahrende Gedanke ihren aggressiven Elan verlieh, sondern die Mobilisierung als Element des (Über-)Machtwillens.
Wenn sich an dieser Stelle der Übergang vom (Lebens-)Raum zur völkisch konnotierten Wendezeit vollzieht, wird erst recht erkennbar, wie elementar die in diesem Sammelband aus Sicht einer politisch orientierten Kulturgeschichte gebündelten Beiträge auch in den Bereich theologischer Positionsbildung hineinragen. Be­sonders klar kommt dies in Martin H. Geyers Reflexionen über »Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Re­publik« zum Ausdruck – auch wenn der Autor die Protagonisten theologischer Zeitsinnsuche und -deutung nicht rezipiert, lassen sie sich doch mühelos unter die Stimmführer seines imaginären Intellektuellenorchesters einordnen; gleichwohl hätte sich der Echoraum für Dissonanzen noch einmal deutlich erweitert, wären zu Georg Simmel, Robert Musil, Ernst Bloch und Karl Mannheim Charaktere und Generationsgenossen wie Friedrich Gogarten, Paul Tillich und Karl Barth hinzugetreten, denn gerade sie waren Experten der Ungleichzeitigkeit, der Verankerung des Ewigen in der Gegenwart, Kämpfer (auf verlorenem Posten) gegen Leben und ›Gestalt‹ zerstörende Beschleunigungsvorgänge. Aber auch hier und nicht nur hinsichtlich des Raumes gilt: »Für die ›Volkfremden‹ begann nicht erst im Jahr 1943 der Verlust der ›gemeinsamen Ge­genwart‹« (187).
Der facettenreichen Beschreibung und Analyse der jeweiligen Ge­genwartskultur widmet sich eine ganze Reihe der Beiträge, wobei die Weimarer Republik den Mittelpunkt des forschenden Interesses bildet. Mit »Kulturkritik und Geschlechterverhältnis« befasst sich Ute Planert; ihr Hauptaugenmerk gilt den (rollen-)ideologischen wie gesellschaftspolitischen, besser wohl: den mentalitätsgeschichtlich fassbaren Umformungsprozessen im Übergang vom Kaiserreich zur neuen, demokratischen Alltagswelt. Das Weibliche wurde zur »Chiffre für Modernität schlechthin« (195), es verkörperte Wandel und Neuartigkeit. Die Antifeministen warfen sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gegen die »Entmannung der Politik« (199) in die Bresche, und manch einer gab sich sicher, dass nur ein Krieg »Männer wieder in Helden zu verwandeln« (200) vermöge. Ein neues Feindbild wuchs heran: »Die ›neue Frau‹ erschien als Inbegriff jenes verhassten und als ›jüdisch‹ denunzierten Liberalismus, den die Gegner der Republik für alle ›Niedergangserscheinungen‹ der Gegenwart verantwortlich machten« (207). Die nationalsozialistische Ideologiebildung warf ihre Schatten voraus.
Die hier unter Genderaspekt entfalteten Entwicklungslinien werden durch Beiträge zum Verhältnis von Individuum und Masse (vgl. Per Leo: »Der ›fremde Andere‹. Zur Sichtbarkeit des Einzelnen in den Inszenierungen der modernen Großstadt«), vor allem aber durch die Aufnahme des Gewaltphänomens vertieft. Die Militarisierung der Gesellschaft bringt Martin Baumeister in seinem Aufsatz »Kampf ohne Front? Theatralische Kriegsdarstellungen in der Weimarer Republik« zur Geltung: Pflicht, Kameradschaft, Opfer und Ehre bilden die Versatzstücke einer in den Mythos übergreifenden Idee, die Lebende und Tote in einer schicksalhaften Gemeinschaft zusammenfasst. Und auch in diesem Beitrag rückt das Geschlechtermotiv in den Vordergrund: Im Krieg traumatisch versehrte Männlichkeit wollte restauriert werden. Dabei übernahm das ›rechte‹ politische Lager zu Beginn der 1930er Jahre die Diskurshoheit und versprach Heilung – von Angst und gestörten Nerven. Indem Sven Reichardt unter Rekurs auf Faschismus- und Totalitarismustheorien die Remilitarisierung Weimars auf das »Verhältnis von nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt« hin prüft, schraubt er die Binnendebatte der Tagungswiedergabe noch einmal auf eine andere, politiktheoretisch engagierte Ebene.
Am Ende darf auch in diesem Band der mittlerweile obligatorische Dreh zur Bildwissenschaft nicht fehlen, so dass nach Gender und Gewalt auch dieses Modethema ambitionierter Kulturwissenschaften seinen Auftritt hat: »Ästhetische Strategien der Werbung 1900–1933«, untersucht von Alexander Schug, und »Propaganda in der Kultur des Schauens. Visuelle Politik in der Weimarer Republik«, beleuchtet von Thomas Mergel, zwei Themen, die zwar einen etwas unvermittelten Schluss bilden, dann in gewisser Weise aber doch wiederum eine Klammer zur anfänglichen Raumfrage bieten, denn beide Bereiche leben ja von ihren letztlich fiktionalen Grundzügen. Der erste – in Jost Philipp Klenners Beitrag »Der Duce ist nicht aus Email. Aby Warburg, politisch?« zitierte – Satz der Einleitung zum epochalen »Mnemosyne-Atlas« des Hamburger Universalexperten für Bilder-Rätsel und Ikonologie lautet: »Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen« (452). Übertragen auf die nun doch schon seit längerer Zeit inflationsartig propagierte Interdisziplinarität im Zusammenspiel der (Geistes-)Wissenschaften liefern die Tagungsbeiträge einen informativen Eindruck davon, was willigen Mitspielern an Themenangeboten eigentlich zur Verfügung steht – und wie wenige dieser innovativen Ideen in die theologische (Selbst-)Reflexion integriert worden sind.