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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1352–1355

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Markschies, Christoph

Titel/Untertitel:

Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. VI, 525 S. gr.8°. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149263-1.

Rezensent:

Wolfgang A. Bienert

Christoph Markschies, renommierter evangelischer Theologe, Kirchenhistoriker (Patristik) und gegenwärtig Präsident der Berliner Humboldt-Universität, veröffentlicht in diesem Werk auf der Grundlage seiner zahlreichen Arbeiten zur Geschichte der Alten Kirche Prolegomena zu einer neuen Geschichte der antiken christlichen Theologie in ihrem historischen Kontext. Er knüpft kritisch an Adolf von Harnack an, setzt sich aber vor allem mit Walter Bauer, »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum« (1934; ²1964; vgl. 339–369) auseinander. Dabei legt M. Wert auf die Feststellung, dass es ihm nicht um eine möglichst erschöpfende Darstellung der Theologiegeschichte der Kaiserzeit gegangen sei. Vielmehr handle es sich um Prolegomena, d. h. um Vorüberlegungen und Vorarbeiten für eine neue Sicht der Kirchen- und Theologiegeschichte des 2. und 3. Jh.s unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung und Entwicklung von Institutionen und Normen im frühen Christentum, Harnacks Begriff »Dogmengeschichte« meidet er. Dieser beschreibt in seinen Augen lediglich einen Teilaspekt der Theologiegeschichte, obwohl es bei den Dogmen und ihrer Geschichte auch um Fragen der Rechtgläubigkeit und d. h. um Normen geht. M. plädiert stattdessen für eine möglichst organische Verbindung von Kirchen- im Sinne von Ereignisgeschichte und Theologiegeschichte, bei der die Frömmigkeits- und die Liturgiegeschichte stärker als bisher berücksichtigt werden sollten, ein Aspekt, der vor allem in der protestantischen Forschung oft vernachlässigt wird, aber nicht nur dort. Das besondere, zugleich ökumenische Interesse des Berliner Theologen richtet sich auf die institutionellen Kontexte, »innerhalb derer in der Kaiserzeit christliche Theologie getrieben wurde« (2).
»Eine Grundthese des Buches ist, dass der Blick auf die unterschiedlichen institutionellen Kontexte christlicher Theologie es ermöglicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im antiken Chris­tentum des zweiten und dritten Jahrhunderts präziser und zu­gleich konsensfähiger zu beschreiben, als es in Anknüpfung an Bauer und Widerspruch zu ihm gegenwärtig meist geschieht« (5). Hinter dieser These steht unausgesprochen, aber unübersehbar die Frage nach der Identität und der Einheit des antiken Christentums angesichts der Pluralität unterschiedlicher Erscheinungsformen, die für Bauer kennzeichnend für den geschichtlichen Ursprung der Kirche war. Die Beobachtung, dass die »orthodoxe« Theologie nicht am Beginn der Lehrentwicklung stand, sondern das Ergebnis eines längeren Prozesses von Lehrstreitigkeiten war, in dem sich normative Strukturen und Institutionen z. T. in Anlehnung und Übernahme aus der jüdischen oder der paganen Umwelt bildeten und sich weiter entwickelten – wie z. B. das Bischofsamt, das Glaubensbekenntnis und der Kanon heiliger Schriften –, hatte die traditionelle Sicht von der Entstehung der frühen Kirche grundlegend verändert. Das führte u. a. zu der Erkenntnis, dass sich christliche Identität und die Pluralität von »Christentümern« nicht grundsätzlich ausschließen müssen, sondern dass sich Identität und Pluralität auch komplementär zu­einander verhalten können (373–379). Dieser Zusammenhang gehört mit zu den Erkenntnissen, die M. selbst durch seine Untersuchungen bestätigt und gefördert hat. Der Schlussabschnitt dieses Buches, in dem die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammengefasst werden, trägt insofern nicht ohne Grund die Überschrift »Die antike christliche Theologie als plurale Identität« (379).
M. versteht seine Ausführungen als programmatische, aber noch nicht abgeschlossene Vorüberlegungen zu einer neuen Konzeption der Kirchen- und Theologiegeschichte. Von besonderem Interesse sind für ihn Normen und Institutionen, die die Christen nicht nur aus dem Judentum übernahmen, aus dem sie hervorgegangen waren, sondern auch aus der paganen Umwelt mit ihren vielfältigen geistigen und kulturellen Herausforderungen und Möglichkeiten, für die sich bereits das hellenistische Judentum geöffnet hatte – ebenso wie die Gnosis. Es handelt sich dabei um einen vielschichtigen Prozess gegenseitiger Beeinflussung, der sog. »Akkulturation«. Um ihn genauer zu erforschen, geht M. paradigmatisch vor und untersucht auf der Basis des jeweils aktuellen Forschungsstandes verschiedene Aspekte des Gesamtthemas.
Es sind vor allem drei Bereiche, die M. genauer untersucht.
1. Er beginnt mit Vorklärungen zu den Begriffen »Theologie« und »Institution«, die er einer besonderen sprachgeschichtlichen Prüfung unterwirft (11–41), da es sich um Leitbegriffe seiner Studie handelt. Wenn man z. B. fragt, welche Bedeutung der heutige Begriff ›Theologie‹ in der römischen Kaiserzeit hatte, und andererseits zusam­menträgt, mit welchen Termini die antike Christenheit die rationale Rechenschaft über ihren Glauben bezeichnet hat, »dann gewinnt man erste wichtige Einsichten über den institutionellen und intellektuellen Standort dieses christlichen Nachdenkens in der antiken Gesellschaft« (16). Die allmähliche Aneignung der paganen Begriffe θεολογία, θεολόγος u. a. durch die Chris­ten ist Teil dieser Akkulturation, bei dem sich verschiedene Traditionen gegenseitig beeinflussen. Zuerst waren es Mythendichter wie Orpheus, Homer und Hesiod, die als »Theologen« bezeichnet wurden. Später wird der Apostel Johannes »der Theologe« genannt und in das spätantike Weltbild eingezeichnet. Der Begriff θεολο-γία, der im Christentum zur Bezeichnung der wissenschaftlich be­gründeten Rede von Gott wird, geht auf Plato zurück. Die enge Verbindung zwischen platonischer Philosophie und christlicher Theologie hat er insofern mit vorbereitet. Als erster christlicher »Theologe«, der sich kritisch mit der Philosophie seiner Zeit auseinandersetzte, erscheint der Märtyrer Justin, der als freier christlicher Lehrer im 2. Jh. in Rom wirkte. Eine Generation später begegnet uns Clemens von Alexandrien und nach ihm der wohl bedeutends­te und einflussreichste alexandrinische Gelehrte Origenes. Nach M. handelt es sich bei ihnen ebenfalls um freie christliche Lehrer. Manche von ihnen waren jedoch auch als Katecheten in ihrer Gemeinde tätig. Vielleicht gilt das – zumindest für eine bestimmte Zeit – auch für Origenes vor seinem Konflikt mit dem heimischen Bischof. Da M. darauf verzichtet hat, die Entstehung und Entwick­lung des altkirchlichen Bischofsamtes und der altkirchlichen Bischofskirche genauer zu untersuchen, geht er auf diesen Konflikt nicht näher ein. In der Regel spricht er von dieser Kirche als »Mehrheitskirche« (37 ff.118.132; vgl. besonders 340 mit Anm. 10). Diese Bezeichnung ist deswegen problematisch, weil wir für das 2./3. Jh. kaum verlässliche Angaben über die Mehrheitsverhältnisse in den christlichen Gemeinden besitzen.
Unabhängig davon verdient der Abschnitt über den Begriff »Institution« (31–41) besondere Aufmerksamkeit, denn er ist von grundsätzlicher sozialgeschichtlicher Bedeutung. M. versteht un­ter »Institution« wissenschaftssoziologisch eine anthropologische Grundkategorie bzw. ein unausweichliches Organisations- und Bezugsraster jeglichen sozialen Handelns (34), das jede neue Idee zu ihrer Durchsetzung benötigt. Dazu gehört auch eine Dynamik der Institutionalisierung, die sich in Mechanismen der »Normierung, der Kanonisierung, der Dogmatisierung und der Hierarchisierung« (36 f.) äußert. Mit dem Begriff »Institutionen« ist zugleich der Ausdruck »Norm« definiert. M. versteht darunter »die handlungsleitenden und kommunikationssteuernden Grundlagen einer Ordnung oder einer Institution« (40). Bezogen auf die frühe Kirche geht es um praktische Fragen des christlichen Lebens wie Taufe, Gottesdienst (Liturgie), Buße, aber auch um Kirchenrecht, Kirchenordnung, kirchliche Ämter und Fragen der Verfassung, die das Gemeindeleben auf den verschiedensten Ebenen nach innen und nach außen regeln und prägen.
2. In dem folgenden ersten Hauptabschnitt (43–213) untersucht M. drei institutionelle Kontexte, in denen sich das Christentum im 2./3 Jh. weiterentwickelte – im Bereich der Lehre in der Trias »Lehrer, Schüler, Schule«, beim Montanismus und im Gottesdienst: a) Die Frage nach den freien Lehrern und dem christlichen Schulbetrieb, zu dem auch die Gnostiker gehören, betrifft vor allem das Verhältnis zwischen dem christlichen und dem paganen Bildungskanon im antiken Schulbetrieb. b) Die montanistischen Propheten und ihre Zirkel erinnern an das Christentum als prophetische Bewegung. c) Der christliche Gottesdienst wird bestimmt durch seine Rituale und Gebete, d. h. durch seine Liturgie.
Der Abschnitt über Lehrer, Schüler und das Schulwesen schildert ein­druck­svoll das antike Bildungssystem und den paganen Einfluss. Ob es auch jüdische Einflüsse gab, wird nicht näher untersucht. M. zeigt generell ein stärkeres Interesse an der paganen Bildung z. B. bei Clemens Alexandrinus und Origenes. Der Lehrbetrieb des Origenes in Caesarea war u. a. gerade deswegen be­merkens­wert, weil in ihm im christlichen Kontext auch die antike Bildung weitervermittelt wurde. Ob die Bezeichnung »Privatuniversität« für die Lehrtätigkeit des Origenes (73.93–107.211 f.) den historischen Sachverhalt trifft, bedarf wohl noch einer kritischen Überprüfung. Immerhin deutet er an, welchen Bildungsstand das Christentum im 3. Jh. bereits erreichen konnte. – Im Blick auf den Montanismus wäre wohl die Rolle Tertullians noch einmal etwas intensiver zu bedenken. War er vielleicht Gemeindelehrer bzw. Katechet? – Was den Gottesdienst betrifft, wird dessen soziale Bedeutung als Kultversammlung für die Gemeinde deutlich, weil sie die Gemeinschaft stärkt. Das gilt auch für die Theologie, die sich in den gottesdienstlichen Gebeten niedergeschlagen hat. Schwierig ist jedoch die Quellenlage, was sich insbesondere bei der Erforschung der altkirchlichen Liturgie zeigt.
3. Der zweite Hauptabschnitt (215–335) trägt die Überschrift »Institution und Norm« und behandelt die Entstehung, Entwick­lung und ekklesiale Bedeutung des neutestamentlichen Kanons im Spannungsfeld der Frage nach seinen Grenzen (Apokryphen; Gnosis) und Marcion mit dessen auffallendem philologischen Interesse am »Neuen Testament«, das zur Entstehung des Schriftenkanons ohne Zweifel wesentlich beigetragen hat. Für M. gehört Marcion zu den freien Lehrern, die im 2. Jh., das M. gern als »Laboratorium« bezeichnet, theologisch »experimentierten«. Über die Angemessenheit der naturwissenschaftlich geprägten Terminologie könnte man möglicherweise streiten, aber die Bedeutung Marcions für die Entstehung des Kanons und der damit verbundene Beitrag zur Entwicklung einer besonderen christlichen Identität, die sich durch Abgrenzung vom Judentum definierte, aber auch für die frühchristliche Theologie insgesamt ist unbestreitbar. Nicht ohne Grund haben sich alle »kirchlichen« Theologen dieser Zeit von Marcion ausdrücklich distanziert. Welche Intention dieser mit seiner Edition des Neuen Testaments verband, ob er lediglich daran interessiert war, ein »literarisches Corpus zu edieren« (253), oder ob es ihm um das von ihm neu entdeckte Evangelium des Paulus ging, das er als Gegensatz zum jüdischen »Gesetz« verstand, bedarf wohl noch einer genaueren Untersuchung.
4. Im dritten und letzten Hauptteil zum Thema »Identität und Pluralität des antiken Christentums« (337–383) behandelt M. das »kulturprotestantische Modell« Walter Bauers und seine Wirkungsgeschichte im Gegenüber zum »›jesuitischen‹ Modell der Inkulturation«. M. entscheidet sich für das Modell einer pluralen Identität in der altkirchlichen Theologie. Trotz einer Reihe von grundsätzlichen Einwänden gegen W. Bauers Monographie hält M. daran fest, dass die traditionelle Vorstellung von einer ur­sprünglichen Einheit und einer gleichbleibenden Identität des antiken Christentums eine (wenn auch einflussreiche) Konstruktion darstellt. Die Kategorien von »Orthodoxie« und »Häresie« dürften jedoch – so M. mit Recht – kaum noch geeignet sein, den komplexen Sachverhalt einer pluralen Identität angemessen zu be­schreiben, den eine unvoreingenommene historische Forschung zu erschließen versucht.
M. hat ein eindrucksvolles Werk vorgelegt, das die Lebendigkeit der Alten Kirche widerspiegelt, ohne die geschichtliche Distanz zu verlassen. Beeindruckend ist zudem das umfangreiche Literaturverzeichnis (395–481) neben drei Registern, die den wissenschaftlich fundierten Ertrag der Arbeit erschließen und leicht zugänglich machen. Noch aber handelt es sich um »Prolegomena«. Diese verbinden sich jedoch mit der Hoffnung auf eine künftige Darstellung der Geschichte der altkirchlichen Theologie, in der u. a. auch die Fragen nach dem Ursprung und der Rolle des bischöflichen Amtes als Institution sowie der Entstehung und Bedeutung der Glaubensbekenntnisse als Maßstab für den orthodoxen Glauben behandelt werden.