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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1348–1350

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter

Titel/Untertitel:

Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XII, 594 S. gr.8° = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 41. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-149305-8.

Rezensent:

Katharina Greschat

Kaum ein anderes Thema wird gegenwärtig so intensiv diskutiert wie das Thema Bildung. Insofern kommt diese profunde Untersuchung zum Verhältnis von westlichem Christentum und antiker Bildung, die im Jahre 2006 von der Theologischen Fakultät der Fried­rich-Schiller-Universität Jena als Habilitationsschrift angenommen wurde, genau zur rechten Zeit. Zugleich wirft sie aber auch ein überaus interessantes Licht auf die in der altkirchlichen Forschung immer wieder neu zu behandelnde Frage nach der An­eignung und Transformation der antiken Kultur und ihres Schul- und Bildungsbetriebs durch die Christen.
Die konzise Einleitung (1–26) geht von der Beobachtung aus, dass die Verwobenheit des Christentums in die antike Welt und die Kritik an dieser »Weltlichkeit« gleichursprünglich sind (8). Dementsprechend soll nach der Beteiligung von Christen als Lehrern und Schülern im zeitgenössischen Schulbetrieb ebenso wie nach der theologischen Reflexion über Bedeutung und Gefahren von Bildung gefragt werden, um auf diese Weise dem komplexen Spannungsfeld von Kritik, Rezeption und Transformation auf die Spur zu kommen. Den Gepflogenheiten einer wissenschaftlichen Un­tersuchung folgend wird dieser Zugriff zunächst in Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Forschung profiliert. Weil der Vf. das Verhältnis von westlichem Christentum und antiker Bil dung als einen lebendigen Prozess der Aneignung, Umdeutung und kritischen Reflexion beschreibt, kann er sich mühelos von einfacheren, insbesondere dualen Modellen abgrenzen. Er muss weder die antike Bildung als ein kohärentes Gegenüber zur Theologie charakterisieren noch die innere Zusammengehörigkeit beider Grö­ßen propagieren, wie das seit den wegweisenden Arbeiten von Henri-Irénée Marrou häufig getan worden ist. Kritisch fällt auch die Auseinandersetzung mit dem Chrêsis-Konzept von Chris­tian Gnilka aus, wonach Rezeption oder Ablehnung nicht zufällig er­folgt seien, der Nutzung vielmehr ein »einheitlicher, großer Plan« zu Grunde liege. Da aber von diesem allumfassenden Plan bei den unterschiedlichen Autoren nichts zu erkennen sei, könne man angesichts der sehr verschiedenen »Nutzungen« höchstens von Chréseis im Plural sprechen. Allerdings fehlt eine Bezugnahme auf die von Robert A. Markus vorgetragene Vorstellung von der zunehmenden Desäkularisierung in der Spätantike, die ebenfalls in diesen Zusammenhang hätte diskutiert werden müssen.
Die Untersuchung will vor allem an die neuere Forschung an­knüpfen, die auf die zeitgemäße Bedingtheit, die gesellschaftliche und sozialgeschichtliche Bedeutung von Bildung und ihre institutionelle Verankerung aufmerksam gemacht hat. Selbst die Problematik, ob der Erwerb und die Ausübung von Bildung überhaupt als pagan im Sinne einer religiösen Konnotation verstanden wurde, sei in jüngster Zeit zwar angesprochen, aber nicht näher untersucht worden. Insofern versteht sich die Untersuchung in ihrer Verbindung von theologie- bzw. kirchengeschichtlichen sowie sozial- und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen als Beitrag zur religions- und kulturgeschichtlichen Betrachtung des antiken Chris­tentums (21), weil sie über die Selbstdarstellung christlicher Autoren hinaus auch Grabinschriften, Briefe, Kirchenordnungen, Überlegungen zu Rhetorik und Predigt sowie Daten über Christen als Lehrer in den Blick nehmen möchte: »Gefragt wird nicht zuerst, was Christen meinten, wie man mit antiker Bildung verfahren solle, sondern in welcher Weise Bildung die Kommunikation von Christen miteinander und mit »Heiden« tatsächlich prägte – und an welchen Stellen diese Unterscheidung gar nicht sinnvoll einzuziehen ist« (24).
Die Untersuchung gliedert sich in drei größere Abschnitte. Der erste, überschrieben mit: »Die Bildungsinstitutionen der römischen Kaiserzeit« (27–61), trägt die Ergebnisse der neueren Forschung zusammen, um die institutionelle und inhaltliche Grundlage der Untersuchung aufzuzeigen, und gibt präzise Auskünfte über die Organisation des antiken Unterrichts, über dessen Inhalte und die gesellschaftliche Funktion der antiken Schulbildung.
Im zweiten Abschnitt »Christentum und Bildung in vorkonstantinischer Zeit« (63–127) wird insbesondere die Apologetik im Hinblick auf das erwähnte Spannungsfeld von Kritik, Rezeption und Transformation als verschiedenen Modellen von scholae christianae (nach Basil Studer) ausgeleuchtet. Während etwa Justin und Minucius Felix in ihrer Betonung, Bildung sei als Brücke zum Chris­tentum geeignet, auf die Seite der positiven Rezeption ge­hören, gilt Tertullian als erster Gewährsmann dafür, dass Bildung auch eine religiöse Dimension besitze, weswegen sich ein Christ von ihr abzugrenzen habe. Weil diese Dimension heid­nischer­seits erst im 4. Jh. unter Julian (sog. Schuledikt) realisiert worden sei, dürfte es den Zeitgenossen reichlich merkwürdig vorgekommen sein, dass sich der ehemalige Rhetor Cyprian nicht nur von den als heidnisch verstandenen Kultvollzügen lossagte, sondern auch, wie später sein Landsmann Augustin, seine Profession aufgab. Mit dem carmen apologeticum des wenig be­kannten Commodian illustriert der Vf. eine ganz bestimmte Form der Transformation, die er mit Averil Cameron als ›Rhetoric of Paradox‹ bezeichnet: Commodian äußerte seine Fundamentalkritik an der Schulweisheit, die einem Menschen für sein zukünftiges Leben in keiner Weise nütze, in geschliffenen daktylischen Hexametern. Indem der Vf. schließlich noch darauf verweist, dass bereits zu Beginn des 3. Jh.s das kirch­liche Amt als Instanz zur Wahrung der rechten Lehre und Tradition auftrat und dem Besitz von Bildung gegenüber durchaus kritisch eingestellt war, schafft er die Grundlage für den folgenden langen Abschnitt »Christentum und Bildung in der Spätantike« (129–486), der diese Linien nur noch weiter auszieht.
Eindringlich schildert der Vf. zunächst das grundlegende Problem, wonach keineswegs allzu scharf zwischen christlichen und paganen religiösen oder kulturellen Konzepten unterschieden werden kann. Die ablehnenden Reaktionen auf Paulinus von Nolas Weigerung, auch nach seiner Hinwendung zum christlichen Glauben ein seiner erworbenen Bildung entsprechendes Leben zu führen, sprechen auch in nachkonstantinischer Zeit noch eine deutliche Sprache. Erst das schon genannte Schuledikt Julians und das Aufkommen der asketischen Bewegung innerhalb des Christentums – so die These des Vf.s – haben zu einer vertieften Reflexion über die Beteiligung von Christen an den Institutionen der pa­ganen Bildung beigetragen. Gleichzeitig sei das Verhältnis auch durch die kreative Anverwandlung klassischer Stilmuster wie Grab­inschriften, verschiedene Formen von Epistolographie und Ha­giographie bestimmt gewesen, die sich häufig eine ›Rhetoric of Paradox‹ zu eigen gemacht haben oder zwischen Bildungsbeflissenheit bzw. Bildungsskepsis oszillierten. In besonderer Weise spiegelt sich diese Dichotomie im Diskurs über die Verhältnisbestimmung des kirchlichen Amtes zur paganen Bildung, die neben Abgrenzung etwa auch Augustins differenzierte und produktive Inanspruchnahme der Rhetorik für die kirchliche Verkündigung in De doctrina christiana umfassen konnte. Allerdings handele es sich bei Augustin, in gewisser Hinsicht auch bei Hieronymus, insofern um Ausnahmen, als sie ihre nicht unwesentliche Karriere abgebrochen und ein christlich-asketisches Leben gewählt haben, weshalb ihnen der von der klassischen Schulbildung geprägte Lebensabschnitt immer auch fragwürdig erschienen sei. Selbstverständliche Beteiligung am Lehrbetrieb und vehemente Verteidigung gegen Julians Versuch, christliche Lehrer aus dem Schulbetrieb auszugrenzen – so jedenfalls die christliche Interpretation –, standen neben Vorbehalten insbesondere gegenüber der rhetorischen Bildung, die verdächtigt wurde, der Sprachrichtigkeit oder dem Redeschmuck ein größeres Gewicht als der im Text enthaltenen Wahrheit oder Botschaft zuzubilligen. Das konnte einerseits dazu führen, »weltliche Bildung« abzulehnen, andererseits aber auch der Diskussion darüber Raum geben, in welcher Weise auf sie als Gehilfin der veritas zurückgegriffen und sie in den Dienst des Glaubens gestellt werden könne.
Dem Vf. gebührt das Verdienst, die unterschiedlichen Diskurse sachkundig zu bündeln und in der beschriebenen Vielschichtigkeit von Ablehnung, Aneignung und Transformation gleichermaßen zu würdigen. Zweifellos wird die Untersuchung zu einem Standardwerk zur Frage des Verhältnisses von Christentum und antiker Bildung werden, zumal sie auch einen gewichtigen Beitrag zur gegenwärtig wieder neu diskutierten Frage nach der Ausprägung einer christlichen Identität im spätantiken Umfeld leistet, den sie als einen äußerst »lebendigen Prozeß der Aneignung und kritischen Reflexion« (511) plausibel machen kann.
An einem Punkt ist jedoch ein wenig Wasser in den ansonsten vorzüglichen Wein zu gießen. Allzu undifferenziert wird das 6. Jh. als Zeit des »institutionelle[n] Niedergang[s] der antiken Bildungsinstitutionen« (24) bezeichnet, das deshalb auch von einem Bildungsverfall gekennzeichnet sei.
Inwiefern Gestalten wie Gregor von Tours (135 mit Gregor dem Großen verwechselt), Cassiodor oder ein Boëthius die behauptete Dekadenz tatsächlich auch bezeugen, bleibt weitgehend offen. Die Hauptlast der Argumentation muss der schon von Harnack gescholtene Mönchspapst Gregor der Große tragen, weil er »im Namen asketischer Einfachheit die klassischen Bildungsideale und -medien als eines Christen für unwürdig erklären konnte« (172). Dabei greift der Vf. auf den berühmten Brief an Desiderius von Vienne aus dem Jahre 601 zurück, in dem Gregor seinem Kollegen den Grammatikunterricht verbietet, weil es sich nicht schickt, dass das Lob Christi und das Lob Jupiters aus einem Mund kommen. Der Vf. weiß selbstverständlich, dass sich Gregor auf ganz ähnliche Aussagen bei Hieronymus bezieht (474 f.), doch während diese eingehender im Zusammenhang diskutiert werden, erscheint eine genauere Erörterung bei Gregor unnötig zu sein. Dieses Vorgehen wiederholt sich in Bezug auf Gregors Vorwort zu den Moralia in Job, das der Vf. als weiteren Beleg für Gregors Bildungsferne heranzieht, weil Gregor betont, er habe bewusst die Regeln der Grammatik verachtet und Barbarismen absichtlich nicht vermieden. Bei Arnobius und Augustin wird gerade dieser Komplex ausführlich be­sprochen (402–410), dass Gregor sich in ähnlicher Weise geäußert haben könnte, wird nicht einmal erwogen. Stattdessen ist vor allem in der Zusam­menfas­sung von Gregors »ostentative[r] Ablehnung der Schulbildung« (475) die Rede und es wird einmal mehr das Bild einer nunmehr abgeschlossenen klassischen Epoche gezeichnet (493). Es hätte dem hohen Niveau der Untersuchung zweifellos gutgetan, etwas sorgfältiger, als es auch Robert A. Markus tut, zwischen der in dieser Zeit zu konstatierenden »kirchliche[n] Eingemeindung« der Grammatikschulen (465) und dem Niedergang der Bildung zu unterscheiden. Doch so folgt der Vf. unkritisch der eingängigen Desäkularisierungsthese von Markus, die er wohl auch deshalb nicht diskutiert.