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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1345–1347

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Siffer-Wiederhold, Nathalie

Titel/Untertitel:

La présence divine à l’individu d’après le Nouveau Testament.

Verlag:

Paris: Cerf 2005. 437 S. 8° = Lectio Divina, 203. Kart. EUR 45,00. ISBN 2-204-07545-0.

Rezensent:

Frances Back

In ihrer Dissertation befasst sich N. Siffer-Wiederhold (Katholisch-theologische Fakultät der Universität Straßburg) mit der Gegenwart Gottes beim Menschen aus neutestamentlicher Perspektive. Mit der Formulierung »présence divine« im Titel ihres Buches deutet sie an, dass sie dabei nicht nur an die Gegenwart Gottes, sondern auch an die Präsenz Jesu Christi oder des Geistes denkt (14).
S.-W. unterscheidet zwei Formen, mit welchen das Neue Testament die Gegenwart Gottes sprachlich zum Ausdruck bringt: das Sein Gottes mit dem Menschen (la présence divine avec l’homme) und das Sein Gottes im Menschen (la présence de Dieu en l’homme) (12 f.). Während der erste Typ, so S.-W., die Begleitung Gottes und seine Unterstützung hervorhebt (accompagnement et assistance de Dieu), bezeichnet der zweite das Wohnen Gottes im Inneren des Menschen (l’intériorité divine). Beide Umschreibungen der Gottesgegenwart bilden zugleich die Überschriften der beiden Teile, in die das klar aufgebaute und leserfreundlich geschriebene Buch gegliedert ist: I. ist dem Sein Gottes mit dem Menschen gewidmet (17–122), II. dem Sein Gottes im Menschen (123–394).
S.-W. stellt sich die umfangreiche und schwierige Aufgabe, die sprachliche und theologische Bedeutung beider Konzepte in ihren jeweiligen Textzusammenhängen zu entschlüsseln. Während das Thema der Gegenwart Gottes in seinem Volk bereits stärker erforscht ist, legt sie den Fokus auf den Aspekt der persönlichen Beziehung Gottes zum Einzelnen. Unter diesem Gesichtspunkt bespricht sie eine große Vielfalt neutestamentlicher Texte und Literaturen, deren Erschließung allein Respekt verdient.
Dass sich S.-W. dabei auf die Analyse der neutestamentlichen Texte konzentriert und ihre Studie nicht durch lange Literaturreferate belastet, ist gut. Es rechtfertigt allerdings nicht ihren Verzicht auf die Verortung ihrer Arbeit in der Forschung. Durch eine solche Bestimmung des eigenen Standortes in der Diskussion ließe sich der Gegenstand der Untersuchung klarer eingrenzen. Auch würde dann deutlicher, worin das Neue des Beitrags besteht.
Im ersten Teil geht S.-W. zunächst auf traditionsgeschichtliche Gesichtspunkte des »Mitseins Gottes« ein (1. Une formule stéréotypée traditionelle, 23–54). Die alttestamentlich geprägte und im außerbiblischen antiken Judentum rezipierte Formel vom Sein Gottes mit einzelnen Menschen ist nach S.-W. besonders an die Berufung und Beauftragung bestimmter Personen durch Gott gebunden. Sie bringt die handelnde Dimension der Gegenwart Gottes zum Ausdruck und dient zur Umschreibung seiner aktiven Hilfe (54). Im Neuen Testament wird das biblisch geprägte »Mitsein Gottes« von Paulus (1Kor 15,10), in den lk Schriften (Lk 1,28.66; Apg 7,9; 10,38; 18,10), im JohEv (Joh 3,2; 8,29; 16,32) und in den Past (2Tim 4,22, hier auf den auferstandenen Christus bezogen) aufgegriffen. Durch den selteneren Einsatz gewinnt es im Neuen Testament, so S.-W., gegenüber der Verwendung im Alten Testament an Gewicht (114). In den genannten neutestamentlichen Texten bringt es aus S.-W.s Sicht eine noch engere Gemeinschaft zwischen den Glaubenden und Gott zum Ausdruck als im Alten Testament: Das Gottesverhältnis der Menschen, »mit« denen Gott im Neuen Testament ist, bleibt, so S.-W., frei von Brüchen; es handelt sich um ein dauerhaftes Sein Gottes mit den Menschen; dies ist bei den entsprechenden Personen, denen das »Mitsein« Gottes im Alten Testament zuteil wird, nicht der Fall (115 f.).
Bei dem »Sein Gottes im Menschen«, das S.-W. im zweitenTeil ihrer Studie behandelt, fällt der alttestamentliche Befund an­ders aus: Das Alte Testament spricht nach S.-W. nie von der Gegenwart Gottes in einem Menschen, sondern lediglich (und selten) von der Präsenz seines Geistes, seines Namens oder seiner Weisheit in ihm (132). Das Neue Testament bietet, so S.-W., demgegenüber mit der häufigen, vor allem in der pln und joh Literatur konzentrierten Verwendung von Formeln, die das Sein Gottes bzw. das Sein Chris­ti oder des Geis­tes in einem Menschen beschreiben, etwas Neues (143).
Hier wird nicht ganz klar, weshalb S.-W. bei der Besprechung der pln und dtrpln Texte mit einem Kapitel über 2Kor 5,19; Kol 1,19; 2,9; Eph 1,19 f. zur Gegenwart Gottes in Christus einsetzt (147–163), um daran Ausführungen über 1Kor 6,19; Gal 2,20; Röm 8,9–11; Kol 1,29; Eph 3,17.20 zur Präsenz Gottes, Jesu und des Geistes im Menschen anzuschließen (163–225). Gehört der Abschnitt über die Gegenwart Gottes in Christus in den Teil über die »présence de Dieu en l’homme«? Wäre hier nicht die Beschränkung auf die Texte sinnvoll gewesen, die auf S. 163–225 besprochen werden? Dieser Einwand gilt auch für das Kapitel über die joh Literatur: Auch hier werden zu­nächst Texte zur Immanenz des Vaters im Sohn behandelt (Joh 10,38; 14,10 f.; 17,21–23), um anschließend nach Gottes Sein im Menschen (1Joh 3,24; 1Joh 4,15 f.) und Jesu Sein im Menschen (Joh 6,56; 15,4 f.) zu fragen. Aber die Überschrift von II. »La présence de Dieu en l’homme« passt nicht recht zu den Ausführungen über die Immanenz des Vaters im Sohn, der in Joh 1,18 und 20,28 als »Gott« bezeichnet wird. Die Immanenz des Vaters im Sohn steht mit dem Bleiben Jesu in den Jüngern (Joh 15,4 f.) bzw. in dem, der sein Fleisch isst und sein Blut trinkt (Joh 6,56), nicht auf einer Ebene.
Ein letzter Punkt soll abschließend in Frage gestellt werden: In der Zusammenschau (Vue d’ensemble sur la formule d’intériorité dans le Nouveau Testament, 385–394) hebt S.-W. hervor, dass die Präsenz Gottes im einzelnen Menschen ein besonderes Charakteris­tikum der besprochenen neutestamentlichen Texte sei, die diese vom alttestamentlichen Befund unterscheide. Diese These findet im Titel des Buches in der Formulierung »La présence divine à l’individu« ihren Ausdruck. In den joh Aussagen über die Immanenz Jesu in den Jüngern geht es aber um die Gegenwart Gottes in einer Gruppe von Personen. Ähnlich verhält es sich mit den pln Texten, die von der Präsenz des Geistes in den Christen reden. Dass dabei primär der Mensch als Einzelner im Blick ist, wie S.-W. meint, ist m. E. fraglich.
Durch diese Einwände soll der Wert des Buches nicht geschmälert werden. Es bietet den Lesern einen guten Überblick über das Thema der »présence divine à l’individu d’après le Nouveau Testament« und führt sie sicher durch die schwierigen Gebiete, die dabei abgeschritten werden.