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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1342–1345

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Min, Kyoung Shik

Titel/Untertitel:

Die früheste Überlieferung des Matthäusevangeliums (bis zum 3./4. Jh.). Edition und Untersuchung.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. X, 357 S. m. Abb. gr.8° = Arbeiten zur Neutestamentlichen Textforschung, 34. Lw. EUR 98,00. ISBN 3-11-018281-5.

Rezensent:

Roland Deines

Die am Münsteraner Institut für neutestamentliche Textforschung unter Barbara Aland erarbeitete Dissertation präsentiert sich als eine gut zu lesende Arbeit, die in mehrfacher Weise bedeutsam ist.
Wer seit Proseminarzeiten mit der Methodik und Entwicklung der Textkritik nicht Schritt gehalten hat, findet im ersten Teil (der etwas spröde lediglich als »Einleitung« firmiert) eine gute Einführung in die aktuelle Diskussion der Frage der »Texttypen« und der methodischen Beurteilung von Differenzen in der Textüberlieferung. Dabei liegt der Schwerpunkt gemäß dem Titel der Arbeit auf den frühesten, d. h. vorkonstantinischen Zeugen, die zumeist aus Papyri-Fragmenten bestehen. Diese ersten gut 50 Seiten sind nicht auf das Matthäusevangelium beschränkt, sondern für alle an einem solchen update Interessierten nützlich. Besonderes Gewicht erhält hier (und dann entsprechend auch im zweiten Teil) die Analyse der individuellen Schreibergewohnheiten des jeweiligen Textes, sofern sie sich rekonstruieren lassen. Da für diese frühe Zeit noch nicht von einer (kirchlich) organisierten Überprüfung und Korrektur der Abschriften auszugehen ist, lässt sich die Zuverlässigkeit einer Abschrift nur anhand der »individuellen Schreibgewohnheiten der Kopisten« bestimmen (3). Diese wiederum müssen im Kontext der »allgemeinen Schreibgewohnheiten« beurteilt werden, ehe ein Urteil über die Zuverlässigkeit des Schreibers möglich ist.
Der Wert einer Handschrift lässt sich aber nicht allein auf Grund der Kopiergenauigkeit messen, sondern muss zusätzlich im Hinblick auf ihre Vorlagentreue untersucht werden. Denn die genaue Abschrift einer schlechten Vorlage macht Erstere nicht zu einem guten Zeugen. Umgekehrt bleibt selbst die fehlerhafte Abschrift einer guten Vorlage für die Feststellung des Urtextes von großer Bedeutung (etwa P37). Die methodische Schwierigkeit ist jedoch, worauf M. mehrfach hinweist, die Beurteilung der zumeist unbekannten Vorlage der jeweils zu untersuchenden Handschrift. Ihre eigene Lösung dafür lautet, dass Handschriften »gegen den hypothetischen Ausgangstext kollationiert werden« sollten (33), worunter sie (in Übereinstimmung mit B. Aland) den konstituierten Text des NTG27 versteht: »Dieser Text, an dem Generationen von Textkritikern gearbeitet haben, und der sich bei der täglichen Arbeit mit dem Neuen Testaments als zuverlässig, wenn auch selbstverständlich nicht fehlerfrei erweist, gilt uns hier als hypothetischer Ausgangstext der Überlieferung« (4). Stimmt ein Papyrus mit dem so erschlossenen Ausgangstext überein, stützt dies »sowohl den Text des NTG27 als auch die textkritische Qualität des Papyrus« (3).
Dass hier ein Zirkelschluss vorliegt, wird m. E. nicht deutlich genug benannt, da die Papyri ihrerseits ja bereits zur Textkonstitution des Ausgangstextes beigetragen haben. Diesem Einwand kann allerdings entgegengehalten werden, dass der Text des Neuen Testaments seit der Ausgabe von Westcott/Hort im Jahr 1881 trotz der zahlreichen seitherigen Papyrusfunde nicht mehr wesentlich verändert wurde, so dass der Einfluss der Papyri auf die Textkonstitution insgesamt als eher gering anzusehen ist (vgl. 1). Die von M. angewandte Me­thode erlaubt es, auch Papyri mit geringem Textumfang auf ihre Qualität hin zu befragen, da die Kollation gegenüber dem Ausgangstext und ein Vergleich mit der Varianzbreite der übrigen Textüberlieferung (vgl. 43–46) ein vorsichtiges Urteil sowohl über die Vorlagen- als auch die Überlieferungstreue erlaubt.
Erwähnenswert ist, dass diese den Gesamtbestand genau beobachtende und präzise beschreibende Methode die zumindest im eng­lischen Sprachraum sehr populären Thesen Bart Ehrmans von einer intendierten »orthodox corruption of scripture« zur Stützung insbesondere des christologischen Dogmas nicht bestätigt (vgl. 7–9; auf S. 298–304 wird Ehrmans These im Hinblick auf Mt 20,30 f.; 26,39 und 1,16 diskutiert). Entscheidend ist hierfür M.s Beobachtung, dass diese vorgeblich absichtlichen Textkorrekturen an keiner Handschrift als durchgängig oder konsequent angewandt zu beobachten sind und insgesamt eher selten sind. Aus der Einzelfallanalyse lässt sich also gerade keine generelle Tendenz oder gar Strategie erkennen.
Der zweite Teil der Arbeit untersucht nach der vorgestellten Methode alle 13 für Matthäus in Frage kommenden Papyri (1, 35, 37, 45, 53, 64/67, 70, 77, 101–104, 110) sowie eine Majuskel (0171) in einem Dreischritt: Der erste, 1. Text und Apparat, enthält eine Neuedition jedes Papyrus mit Rekonstruktion der Lücken auf Grund des hypothetischen Ausgangstextes NTG27 (teilweise mit Abbildungen zur Begründung der Textrekonstruktion, sofern diese von der Erstedition abweicht). Dazu kommt eine Transkription des so rekonstruierten Textes, der dann vollständig gegenüber NTG27 und GNT4 kollationiert wird. Darauf aufbauend ist ein textkritischer Apparat für die wesentlichen Abweichungen erarbeitet worden, der diese in den Rahmen der Gesamtüberlieferung eingliedert. Es folgt als zweiter Schritt die Analyse, in der, eingeleitet durch die eher technischen Angaben (Fundort, Datierung, Umfang, ausführliche Bib­liographie etc.), der Textcharakter festgestellt wird, indem nacheinander alle vorkommenden Additionen, Omissionen, Umstellungen und Substitutionen diskutiert werden. Falls nötig, werden die darin be­schrie­benen Abweichungen noch einmal unter den Stichworten Korrekturen, Orthographie, ›Nonsense readings‹, Sin­gu­lärlesarten und Harmonisierungen behandelt. Abschließend wird un­ter 3. in knappen Punkten ein Fazit gezogen (das zugleich als Startpunkt für die Lektüre dienen kann). Dieser zweimalige Durchgang führt notwendigerweise zu manchen Doppelungen, doch gewinnt das Argument dadurch an Klarheit. Ferner bleibt einem so beim Lesen er­spart, sich die Details immer wieder neu zusammensuchen zu müssen.
Der Nichtspezialist lernt aus diesem detaillierten Vergleich, dass Aussagen über die ›Tendenz‹ einer Lesart an einer bestimmten Stelle nur möglich sind, sofern der gesamte Text betrachtet wird: Was an einer Stelle als vorsätzliche Änderung interpretiert werden könnte, wird vom selben Schreiber nicht selten an einer anderen Stelle wieder aufgehoben, so dass für die weit überwiegende Mehrzahl der Abweichungen keine Intention nachweisbar ist. Hervorhebenswert ist ferner, dass viele Kopisten ihren Text verstanden haben und darum beim Abschreiben bewusst oder unbewusst kleinere Modifikationen vornahmen, die aber seinen Gesamtsinn in der Regel nicht berühren. Exemplarisch hierfür ist P45, dessen Schreiber so charakterisiert wird: »Der Schreiber hat im eiligen Fluss der Abschrift hauptsächlich viele kleine Fehler kreiert, die den Gesamtsinn nicht berühren. Das liegt daran, dass der Schreiber weder Buchstaben noch Wörter, sondern das wiedergegeben hat, was er beim Lesen verstanden hat. Dabei hat er den Gesamtsinn des Textes gut reproduziert, manchmal in seiner eigenen Ausdrucksweise« (151). Zudem gilt für die frühen Papyri, dass in der Regel mehr Omissionen als Additionen nachweisbar sind. Die lectio brevior-Regel ist hier also mit Vorsicht zu handhaben.
In der umstrittenen Frage der Zusammengehörigkeit von P4 mit P64/67 und damit als Nachweis eines Vier-Evangelien-Kodex für die Zeit um 200 votiert M. für die Zusammengehörigkeit (173 f.), da beide Fragmente denselben Textcharakter aufweisen. Nicht mehr aufgenommen werden konnte in die Arbeit die gegenteilige Begründung, wie sie von Peter M. Head (Is P4, P64 and P67 the Oldest Manuscript of the Four Gospels? A Response to T. C. Skeat, NTS 51 [2005], 450–457) und S. D. Charlesworth (T. C. Skeat, P64+67 and P4, and the Problem of Fibre Orientation in Codicological Reconstruction, NTS 53 [2007], 582–604) neuerdings vorgetragen wurde. Er­wähnt zu werden verdient außerdem der erst 1997 erstmals edierte P104 (P. Oxy. 4404) aus dem 2. Jh., der Teile von Mt 21,34–45 enthält, und zwar ohne den textkritisch umstrittenen V. 44, was M. für ur­sprünglich hält (237 f.294 f.).
Der dritte Teil der Arbeit, schlicht mit »Schluss« überschrieben (271–325), enthält eine Zusammenfassung der Ergebnisse im Kontext übergreifender textkritischer und historischer Fragestellungen. Für den Umgang mit den neutestamentlichen Texten im 2. und 3. Jh. lässt sich darin erneut Wichtiges lernen. Am bedeutends­ten erscheint mir der Nachweis, dass zwar die Überlieferungstreue (d. h. wie genau der Schreiber seine Vorlage kopierte) von »fest« bis »sehr frei« variieren konnte, die Textqualität der Vorlage dagegen fast immer sehr gut ist. Das zeigt, dass als Vorlagen beim Kopieren gute Handschriften (d. h. für M. Texte, die dem rekonstruierten Urtext nach NTG 27 sehr nahe kommen) verwendet wurden, während die eher freien Abschriften, wie sie von einem Teil der Papyri bezeugt sind, ihrerseits nicht wieder als Vorlage dienten. Das bedeutet, dass es im 2. Jh. nur einen Texttypus gab, der kopiert wurde. Das setzt zugleich voraus, dass die Abschreiber ein Qualitätsbewusstsein im Hinblick auf die Texte besaßen, die sie als Vorlage wählten, sich beim Kopieren aber dennoch nicht genötigt fühlten, diese wortwörtlich und buchstäblich zu wiederholen, wie die zahlreichen kleineren Substitutionen, Additionen und Omis­sionen belegen, die M. nahezu ausschließlich auf die Ab­schreiber zurückführt.
Ein auffälliges Phänomen sind darüber hinaus die zahlreichen Harmonisierungen, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: Harmonisierungen innerhalb eines Satzes oder einer Perikope (z. B. hält M. mit P45 das s. E. nicht ursprüngliche κύριε in Mt 20,30 für eine Angleichung an die parallele Wendung in V. 31, vgl. 144.290–293.298 f.) und solche synoptischer Art. Es lässt sich für die untersuchten Texte jedoch in keinem Fall eine systematische Harmonisierung nachweisen (287); vielmehr handelt es sich eher um unbewusste Angleichungen. Daraus geht hervor, dass die Abschreiber in der Regel Christen waren, denen die synoptischen Evangelien vertraut waren (an manchen Stellen kommt auch der Einfluss liturgischer Wendungen in Frage). Für Änderungen aus dogmatischen Gründen, wie Ehrman u. a. nachweisen wollten, gibt es keinen einzigen Beleg (diskutiert werden kann die Möglichkeit lediglich bei Mt 3,11, s. 297 f.). Auch ein Vergleich mit den Mt-Zitaten bei den Kirchenvätern (311–321) bestätigt diesen Befund. Man legt die Arbeit mit dem guten Gefühl aus der Hand, dass die exegetische Arbeit am Matthäusevangelium auf einer sicheren textkritischen Grund­lage basiert.
Das Einzige, was ein wenig zu kurz kommt, sind literatursoziologische Aspekte und die Fruchtbarmachung der Ergebnisse für die Geschichte des Christentums im 2. und 3. Jh. Hier hält sich M. sehr stark zurück. Der folgende Satz aus den »Schlussbemerkungen« lässt erahnen, welches historische Potential in dieser Art Arbeit verborgen ist: »Die christlichen Erfindungen wie die Kodexform und die nomina sacra, die wahrscheinlich in einem christlichen Zentrum entstanden, aber schon in der Frühzeit überall im Mittelmeerraum zu finden sind, sprechen eindeutig für die rapide Ausbreitung der christlichen Elemente und den lebendigen Austausch zwischen allen Kirchenprovinzen« (323).
Literaturverzeichnis und Indizes (griechische Handschriften; Bibelstellen; Namen und Begriffe) runden den durchgängig sehr gut zu lesenden Band ab.