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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1340–1341

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hurtado, Larry W.

Titel/Untertitel:

The Earliest Christian Artifacts. Manu­scripts and Christian Origins.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2006. XIV, 248 S. m. 9 Taf. 8°. Kart. US$ 20,00. ISBN 978-0-8028-2895-8.

Rezensent:

Tobias Nicklas

Die Textkritik des Neuen Testaments hat in den vergangenen Jahren eine höchst erfreuliche Entwicklung genommen: Während im Hinblick auf die Frage nach den ältesten Formen des neutestamentlichen Textes neue und präzisere Methoden erarbeitet werden und immer mehr an relevantem Datenmaterial vorliegt, rückt auch eine zweite Fragerichtung mehr in den Mittelpunkt des Interesses: Die Zeugen neutestamentlicher Textgeschichte werden mehr und mehr auch auf ihren Quellenwert für die Geschichte des antiken Christentums hin untersucht. In diesem Zusammenhang hat auch Larry W. Hurtado in den vergangenen Jahren Pionierarbeit geleistet – der vorliegende Band versteht sich als eine Art Zwischenbilanz dessen, was H. in den vergangenen Jahren vor allem in der Form von Aufsätzen vorgelegt hat.
Nach einer Einleitung, in der er zu Recht Wert darauf legt, dass antike Manuskripte genauso wie Überreste von Gebäuden oder In­schriften als Artefakte anzusehen sind, die Aufschluss über die Geschichte des frühen Christentums geben können, gibt H. zunächst einen Einblick darüber, welche Texte heute überhaupt – wenn auch zum großen Teil nur in fragmentarischer Form – auf antik-christlichen Handschriften erhalten sind. Hier zeigt sich selbst für die vorkonstantinische Ära eine überraschend umfangreiche Menge an relevantem Material. H. dürfte Recht haben, wenn er folgert: »With all due allowance for the limitations in the likely extent of literacy in this period, the impression given is that early Christianity represented a religious movement in which texts played a large role« (24). Ob und inwiefern die in Oberägypten entdeckten Handschriften aber tatsächlich zuverlässig spiegelten, welche Texte im frühen Christentum allgemein gelesen und verwendet wurden, wie H. (vorsichtig) an­nimmt, ist natürlich die Frage. Im Grunde geht eine solche Entscheidung sehr weit, setzt sie doch voraus, dass das frühe Christentum als eine zumindest weitgehend einheitliche Bewegung zu verstehen ist. H. hat sicherlich Recht, wenn er auf das »Networking« früher Chris­ten verweist, das sich ja auch daran zeigt, dass uns frühe Manuskripte etwa Irenäus’ Adversus Haereses aus Oberägypten vorliegen. Aber hatten wirklich alle christlichen Gruppen communio untereinander? Und ist das doch zumindest im 2. und 3. Jh. zu erkennende Interesse an »apokryph gewordenen Texten« (D. Lührmann) nicht vielleicht doch ein ägyptisches Phänomen?
In seinem zweiten Kapitel macht H. darauf aufmerksam, dass das Christentum offensichtlich schon sehr früh für den größten Teil seiner literarischen Produktion die Form des Codex an Stelle der Buchrolle verwendete. Kritisch diskutiert H. die in der Forschungsgeschichte vorgebrachten Antwortversuche auf die Frage nach dem Grund dieses Phänomens: Seine Zweifel an Antworten, die mit den praktischen Vorzügen des Codex gegenüber der Rolle argumentieren, sind auch deswegen plausibel, weil dann nicht nachzuvollziehen ist, warum diese Vorzüge offensichtlich lange Zeit nur von Christen gesehen wurden. Ich würde selbst allerdings zögern, mit H., der hier vorsichtig H. Y. Gamble folgt, eine mögliche frühe Ausgabe der Paulusbriefe in Codexform als Impuls zur verbreiteten frühchristlichen Verwendung des Codex anzusehen. Warum wird dann auch ein Text wie P. Egerton 2 auf einem Codex überliefert? Erwähnenswert ist auch der kurze Abschnitt über die Herstellung von Codices, in dem H. u. a. die Überlegung anstellt, ob der Verlust des ursprünglichen Markusschlusses sich eventuell darauf zurückführen lässt, dass dieser Text auf der letzten Seite eines Codex (und nicht geschützt im Inneren einer Rolle) überliefert wurde (87).
Bereits mehrfach hat sich H. zum Phänomen der Nomina Sacra geäußert; seine Ausführungen in diesem Band fassen seine bisherigen Gedanken zusammen und gehen noch einmal auf die von C. M. Tuckett geäußerte Kritik an seinen Ideen ein. Auch die überzeugenden Ausführungen zum Staurogramm im 4. Kapitel, dessen Bedeutung für die Geschichte frühchristlicher Ikonographie wie auch als Zeugnis antik-christlicher am Kreuz Christi interessierter Frömmigkeit H. hervorhebt, können als Zusammenfassung und Weiterführung bereits publizierter Arbeiten H.s verstanden werden. Hier zeigt sich erneut, wie sehr das Studium antiker Handschriften keine »verstaubte« Arbeit, sondern eine Disziplin von ho­her theolo­gischer sowie kultur- und sozialgeschichtlicher Relevanz ist.
Meine Kritik an Details soll nicht den Wert der Arbeit schmälern: H. hat ein Buch vorgelegt, das mithelfen kann und wird, durch den hier initiierten Dialog zwischen Papyrologie und Exegese dem Fach neutestamentlicher Textkritik und Textgeschichte wichtige Impulse zu geben, die vielleicht zu einem Paradigmenwechsel führen können. Ich halte das Buch für eine Pflichtlektüre nicht nur für Experten, sondern auch für Studierende des Neuen Testaments.