Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1335–1338

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hentschel, Anni

Titel/Untertitel:

Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XIV, 498 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 226. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-149086-6.

Rezensent:

Anne Conrad

»Diakonie« als Synonym für christliches, sozial-karitatives Handeln wurde im neuprotestantischen deutschen Sprachgebrauch seit dem 19. Jh. zu einem Leitbegriff Praktischer Theologie; es entspricht hier dem, was in der katholischen Kirche mit »Caritas« bezeichnet wird. Im katholischen Sprachgebrauch bezeichnet »Dia­konat« im Unterschied dazu ein kirchliches Amt innerhalb der katholischen Weihehierarchie, das im Laufe der Geschichte unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat. Sämtliche Deutungen werden mit dem Verweis auf das Neue Testament begründet. Konfessionenübergreifend impliziert das Begriffsfeld »Diakonie/Diakonat« zudem geschlechtsspezifische Wertungen, die nicht nur auf eine Asymmetrie der Geschlechter, sondern auf ein hierarchisches Verhältnis zwischen (übergeordneten) Männern und (untergeordneten) Frauen verweisen; gängig ist etwa die Interpretation, dass διακονία ursprünglich den »Tischdienst« meint, der vor allem von Frauen oder Sklaven geleistet wurde. Nicht zuletzt die femi­nistische Theologie hat in den vergangenen Jahrzehnten allerdings deutlich gemacht, dass exegetische Interpretationen häufig von androzentrischen Vorannahmen geleitet werden und einer kritischen Nachfrage aus der Genderperspektive nicht standhalten. – Grund genug, um dem neutestamentlichen Sprachgebrauch ge­nauer auf den Grund zu gehen. Anni Hentschels gründliche und kenntnisreiche Untersuchung, die 2005 als Dissertation bei Oda Wisch­meyer in Erlangen-Nürnberg eingereicht wurde, setzt hier an. H. fragt danach, wie das Wortfeld διακονέω im Neuen Testament zu verstehen ist, wobei die Verwendung des Lexems nicht nur textimmanent untersucht wird, sondern auch ausführlich auf den vergleichbaren Sprachgebrauch außerhalb des Neuen Testaments, sowohl im Profangriechischen und Jüdisch-hellenistischen als auch in der frühchristlichen Textüberlieferung, eingegangen wird.
Die Untersuchung gliedert sich in fünf große Kapitel. Im Mit­telpunkt steht dabei die Untersuchung der Begrifflichkeit bei Paulus und im lukanischen Doppelwerk.
Das erste Kapitel (6–89) führt in die Forschungssituation ein und widmet sich sehr detailliert dem Bedeutungsspektrum des Begriffs in profangriechischen (Platon, Dion Chrysostomus, Epiktet, Lukian) sowie in jüdisch-hellenistischen Schriften (Septuaginta, »Testamente der zwölf Patriarchen«, »Testament Hiobs«, »Testament Abrahams«, Philo von Alexandria und Josephus Flavius). Das Er­gebnis der Analyse zeigt, dass mit διακονέω vor allem »Ver­mittlung« und »Beauftragung« assoziiert werden, wobei H. gegen andere Forschungsmeinungen (z. B. Collins) dafür plädiert, »Beauftragung« als den wichtigsten Aspekt zu bewerten (85). Festzuhalten ist auch, »dass die Wortgruppe nicht grundsätzlich die niedere Hausarbeit oder den Tischdienst von Frauen und Sklaven bezeichnet« (85). Überhaupt lässt sich keine geschlechtsspezifische Verwendung des Wortfelds ausmachen; als Subjekte finden sich so­wohl Männer als auch Frauen.
Die folgenden drei Kapitel widmen sich dann dem Sprachgebrauch in den Paulusbriefen, im Lukasevangelium und in der Apos­telgeschichte. Die Eingrenzung des Untersuchungsmaterials auf gerade diese Texte rechtfertigt sich in mehrfacher Hinsicht. Bei Paulus wird διακονέω sehr häufig und in zentralen Kontexten verwendet; erkennbar ist auch, dass sein Sprachgebrauch in den folgenden Generationen für die Gemeinden prägend wurde. Das lukanische Doppelwerk bietet sich für eine Untersuchung an, weil hier das Lexem vom gleichen Autor in verschiedenen Gattungen, sowohl in einem Evangelium als auch in einer Erzählung über die ersten christlichen Gemeinden, verwendet wird. Der Vergleich mit den Paulusbriefen ist insofern interessant, als hier die gleiche Situation – Gemeindegründungen und Etablierung frühchristlicher Theologie und Praxis – aus verschiedener Perspektive dargestellt wird.
Der Sprachgebrauch bei Paulus wird in Kapitel 2 (90–184) be­sonders anhand der Korintherbriefe untersucht. In 2Kor 2,14–6,13, jenen Passagen, in denen Paulus sein Apostolat als Auftrag zur Mission und Verkündigung verteidigt, ist διακονία ein Schlüsselbegriff. Darüber hinaus erscheint »Diakonia« unter den Charismen und im Kontext der Kollekte; weitere einschlägige Belege finden sich im Römerbrief. Insgesamt lässt sich für Paulus festhalten: Entgegen der verbreiteten Interpretation des Lexems versteht Paulus die von ihm mit διακονία bezeichneten Aufgaben bzw. Ämter im Bereich der Mission und Gemeindeorganisation nicht als – im heutigen Verständnis – »diakonische« oder karitative »Dienste«, sondern als offizielle Beauftragungen, denen in Bezug auf die Adressaten durchaus eine besondere Autorität eigen ist (181). Subjekte dieser Beauftragung sind sowohl Männer als auch Frauen, wobei es keine genderspezifische Begrenzung für bestimmte Tätigkeitsbereiche gibt (184).
Die Untersuchung des lukanischen Doppelwerks (Kapitel 3: Lk, Kapitel 4: Apg), das als narrativer Text eine ganz andere Gattung als die Paulusbriefe darstellt, andere inhaltliche Schwerpunkte setzt und methodisch eine andere Herangehensweise verlangt, er-schließt den vielschichtigen Sprachgebrauch und bringt wesentliche neue Aspekte. Deutlicher als bei Paulus verweisen die in Frage kommenden Textstellen auf eine Asymmetrie der Geschlechter vor dem Hintergrund der sozialgeschichtlichen Gegebenheiten der antiken Gesellschaft. Διακονέω und διακονία finden sich im Lukasevangelium besonders auch im Zusammenhang mit Frauen: Die Schwiegermutter des Petrus (Lk 4,38 f.), die Frauen in der Nachfolge Jesu (Lk 8,1–3) und Martha (Lk 10,38–42) sind bekannte Beispiele. Die Analyse der Texte zeigt, dass hier mit διακονέω/δια-κονία tatsächlich »Tischdienst« gemeint ist. Indem diese Funktion bekannten weiblichen Identifikationsfiguren der Jesusbewegung zugeschrieben wird, soll – so die plausible Vermutung H.s – in­direkt Kritik an einer verantwortlichen Mitarbeit von Frauen in den lukanischen Gemeinden geübt werden. Indem etwa Marthas Tä­tigkeit auf διακονία in einem engen Sinn eingegrenzt wird, versucht Lukas, »eine möglicherweise unerwünschte Form der offiziellen Mitarbeit von Frauen in der Gemeinde mit Verweis auf das Herrenwort an Martha zu kritisieren und die schweigende und hö­rende Maria als normative Frauenrolle darzustellen« (296 f.). Die Martha-Perikope in Lk 10 ist zudem im gesamten lukanischen Doppelwerk die letzte Stelle, in der διακονέω/διακονία einem weiblichen Subjekt zugeordnet wird. Fünf Perikopen in der zweiten Hälfte des Lukasevangeliums sowie sämtliche Stellen in der Apostelgeschichte sprechen von männlichen Subjekten.
Die einschlägigen Perikopen der Apostelgeschichte sind jene, in denen die Berufung zu Diakonat und Apostolat (Apg 1,15–26) und die Konkurrenz um die Diakonie zwischen den »Hellenisten« und der Jerusalemer Gemeinde (Apg 6,1–7) thematisiert werden. Weitere Textstellen finden sich im Zusammenhang mit Paulus (in Apg 11; 12; 20; 21). Dabei »fällt auf, dass als Subjekte der insgesamt zehn Belege des Lexems in der Apostelgeschichte ausschließlich Männer begegnen und die Männlichkeit dort, wo es um die offizielle Einsetzung in dauerhafte bzw. längerfristige Gemeindefunktionen geht, explizit zur Voraussetzung für die Beauftragung, für die Diakonia, gemacht wird (Apg 1,21; 6,3)« (374). Der Inhalt der Beauftragung ist »die gemeindegründend bzw. gemeindeleitend verstandene Verkündigungstätigkeit« (374).
Als »Ausblick« betrachtet H. im 5. Kapitel noch die spätneutestamentlichen Schriften (1. Timotheusbrief, Epheserbrief) sowie einschlägige Beispiele aus der nichtkanonischen frühchristlichen Literatur (Didache, 1. Clemensbrief, Ignatiusbriefe). Auch hier wird mit διάκονος und διακονία eine Begrifflichkeit verbunden, die vor allem die gemeindegründende und gemeindeleitende Verkündigung im Blick hat – allerdings mit einer neuen Tendenz: In engem Zusammenhang mit der zunehmenden Etablierung des Christentums und der Verfestigung seiner Strukturen verbindet sich mit διακονία ein »Amtsverständnis«. Die »Diakone« werden jetzt nicht mehr ausschließlich von Gott, sondern von der Gemeinde oder deren Leitern beauftragt und sind ihnen gegenüber verantwortlich. Zunächst stehen sie noch gleichwertig neben den »Episkopoi«, doch erkennbar ist auch eine allmähliche Hierarchisierung der Ämter. Während zunächst (z. B. in 1Tim 3,8–13) Männer ebenso wie Frauen διάκονοι sein können, sind Titel und Funktion in den späteren Schriften nur noch Männersache. Das Engagement von Frauen im Kontext von Lehre und Verkündigung war ab einem gewissen Grad der Verfestigung kirchlicher Strukturen nicht mehr erwünscht bzw. akzeptiert (443).
H.s Ergebnisse sind in vieler Hinsicht bemerkenswert; zwei Punkte seien noch einmal pointiert herausgestellt: 1. »Diakonie/ Diakonat« meint im Neuen Testament (anders als in der späteren kirchlichen Tradition) nicht primär »Dienst« im Sinne von Nächs­tenliebe und Caritas, sondern Verkündigung und Gemeindeleitung. 2. Anders als es dem gängigen Image des Paulus und Lukas entspricht, findet sich bei Paulus gerade keine geschlechtsspezifische Trennung oder Hierarchisierung diakonischer Tätigkeiten; wohl aber lässt sich eine solche bei Lukas nachweisen, der damit in seiner Zeit eine Ausnahme darstellte, langfristig aber bestimmend blieb. – Insgesamt bietet H.s Studie nicht nur eine ausgezeichnete Analyse eines theologiegeschichtlich zentralen Begriffsfelds, sondern darüber hinaus eine gut geschriebene und für Historiker ebenso wie für Theologen mit viel Gewinn zu lesende Neudeutung christlicher Identität im Übergang vom Urchristentum zum kirchlichen Establishment.