Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

991 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Heinen, Guido

Titel/Untertitel:

"Mit Christus und der Revolution". Geschichte und Wirken der "iglesia popular" im sandinistischen Nicaragua (1979–1990)

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 344 S. gr. 8o = Münchener Kirchenhistorische Studien, 7. Lw. DM 79,­. ISBN 3-17-013778-6

Rezensent:

Hermann Brandt

Diese an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg entstandene Arbeit beginnt und endet mit einem Zitat: Das Anfangszitat "Mit Christus und der Revolution" ist ein Motto der Iglesia Popular (IP). Das Schlußzitat lautet: "La Iglesia Popular? Ni Iglesia, ni popular!" ­ ein Votum Kardinal Obandos, das der IP ihre Legitimität doppelt bestreitet: Sie ist weder Kirche, noch vom Volk.

Die Untersuchung umfaßt die Jahre 1979 bis 1990, das heißt die Zeit der Regierung der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) vom Sturz der Somoza-Diktatur bis zur Abwahl der Sandinisten. Diese Koppelung der Darstellung der IP an die Regierungszeit der FSLN beruht auf der These, die IP habe die FSLN theologisch sanktioniert bzw. sei von dieser gestützt und ideologisch instrumentalisiert worden. Nach der Wahlniederlage der Sandinisten sei auch die IP bedeutungslos geworden.

Die Arbeit hat fünf Hauptteile, wobei Teil 4 die Zusammenfassung und Teil 5 den Anhang (Abkürzungen, Abbildungen, Literaturverzeichnis und ein Register) enthält. Der 1. Teil beschreibt die Entwicklung der katholischen Kirche und der IP in Nicaragua. Als deren "Wurzeln" werden u.a. europäische "Vertreter einer revolutionären politischen Theologie" (Metz, Greinacher, Girardi, Casalis, Houtart) und Berater und Autoren der Zeitschrift Concilium angegeben, weiter die "Christen für den Sozialismus" und die "Christliche Friedenskonferenz". Erst danach wird "der Widerstand gegen Diktator Somoza" benannt. Sodann werden das Religionsverständnis der sandinistischen Regierung und ihre Einschätzung der IP dokumentiert. Schließlich wird diese selbst beschrieben (Protagonisten, Strukturen, Ausbreitung und Bedeutung der IP).

Der 2. Teil ­ "Die Theologie der nicaraguanischen Iglesia Popular" ­ charakterisiert diese als Theologie des Sandinismus, des "armen Volkes" und der Revolution. Herausgestellt werden die "unbedingte Parteilichkeit der IP", deren Legitimation der sandinistischen Ein-Parteienherrschaft und das Ziel, die Macht der FSLN zu stabilisieren. Die Theologie der Revolution zeige sich u.a. im marxistischen Geschichtsverständnis, dem Primat der gesellschaftlichen Praxis, in der Lehre von der Avantgarde und in der Übernahme ideologischer Denkmuster (Klassenkampf, Nord-Süd-Konflikt, Feindbilder: Anti-Yankiismo, Anti-"Somozismo"). Vf. resümiert, die IP habe zentrale christliche Aussagen (Reich Gottes, Auferstehung) "dem Primat der Partei" untergeordnet und so drei Aufgaben erfüllt: die Rechtfertigung der sandinistischen Herrschaft, die Identifizierung eschatologischer Güter mit dem konkreten historischen Nicaragua und die Propagierung des fortgehenden kulturrevolutionären Prozesses als erste christliche Pflicht (216).

Der 3. Teil ist "Konflikt mit dem Lehramt" überschrieben und auf die Frage konzentriert, "ob der von Bischöfen und dem Papst erhobene Vorwurf, die IP habe ein(e) ,paralleles Lehramt´ installiert, zutreffend ist" (217). Nach entlarvenden Hinweisen ­ etwa auf das Gebetbuch "Beten in der Verteidigung" oder auf eine Rezension der "Dichtung der Streitkräfte" (veröffentlicht vom IP-nahen Centro Ecuménico Antonio Valdivieso), auf die "quasi-sakramentale" Unterstützung der sandinistischen Kampfeinheiten und die Kritik der IP an der Amtskirche, die ihr Volk "im Stich gelassen" habe (vgl. 276 f.) ­ überrascht eigentlich das Urteil, die Vermutung eines parallelen Lehramts sei lediglich "teilweise" bestätigt worden, da doch "die IP in ekklesiologischen, innerkirchlichen, disziplinarischen und politischen Fragen nicht nur einen inhaltlichen Widerpart zur Kirche setzte, sondern auch noch deren Legitimität infrage stellte" (289 f.).

Zusammenfassend bietet der Vf. zwei Wertungen an: die zeitversetzt nach Lateinamerika übergreifende 68er-Bewegung und die IP als Beispiel eines fremdbestimmten politischen Christentums, das die Grundlage des christlichen Glaubens und kirchlicher Identität verließ, um sich in den Dienst einer Ideologie und eines bestimmten Regimes zu stellen (299).

Trotz der vielen bedrückenden Originalzitate (z. B.: Identifizierung der "Treue zu unserem Volk" mit der "Treue zum Willen Gottes", 199) bleibt die Entlarvung der IP vordergründig. Die Arbeit ist "danach" geschrieben; der Autor hat erst seit 1992 recherchieren können. So präsentiert er die IP als ein totes, isoliertes Präparat ­ auch in dem Sinne, daß er sich bei seiner Untersuchung bewußt auf die IP in Nicaragua beschränkt (vgl. 23 f.). Das heißt, die Faszination des nicaraguanischen Modells (und Kubas!) für ganz Lateinamerika und deren Gründe bleiben unreflektiert. Die Interventionen und Knebelungen des sandinistischen Nicaraguas durch den "Westen", ohne die ein Phänomen wie die IP nicht zu verstehen sind, werden nur sporadisch, fast widerwillig, gestreift.

Aktuell ist das Buch insofern, als in ihm die Stasi-Unterlagen der Gauck-Behörde ausgewertet werden, etwa die Berichte eines Oberstleutnants im Staatssicherheitsdienst der DDR (104 ff.). Zwar konnte niemandem, der in den achtziger Jahren in Managua landete (Prozeduren wie im Bahnhof Friedrichstraße), die Systemverwandtschaft zwischen der DDR und dem sandinistischen Nicaragua verborgen bleiben. Aber nun werden Stasi-Akten zum Kriterium; das Stasi-Interesse ­ wie die Kritik des Lehramts ­ belegen die marxistische Verirrung der IP: Die Stasi und der Vatikan sind als Argumentationsinstanzen vereint. So hat die Studie den Charakter einer distanzierten End-Abrechnung, die der IP das begründete Scheitern bescheinigt.