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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1322–1324

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Peter

Titel/Untertitel:

Jesus im Talmud. Übersetzt aus d. Engl. v. B. Schäfer.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XVIII, 308 S. kl.8°. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-149462-8.

Rezensent:

Johann Maier

Der Vf. setzt voraus, dass der bTalmud polemische Aussagen zu Jesus enthält, und zwar unverändert von der Erstformulierung an bis zu den Folgen der mittelalterlichen christlichen Zensur. Das widerspricht eigentlich der sonst vertretenen Auffassung des Vf.s vom literarischen Charakter und von der Geschichte der rabbinischen Überlieferungen, hier jedoch werden Versuche, die Erwähnung des Jeˇsû (ha-nôşrî) mit text-, überlieferungs- und redaktionsgeschichtlichen Prozessen zu verbinden, als fehl am Platz und völlig unnütz hingestellt. In diesem Sinn beurteilt der Vf. in der Einleitung und durchgehend vor allem J. Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, Darmstadt 1978; 21992 (12: »viel Lärm um nichts«; im englischsprachigen Original: »leads to the frustrating conclusion of much ado about nothing«). Eine wissenschaftliche Untersuchung dieses Themas kommt aber weithin nicht über Ermessensurteile hinaus, und ein derart dezidierter Aus­schluss von Alternativlösungen fordert daher vom Leser, die Ergebnisse des Vf.s als alleingültig hinzunehmen, und diese Ergebnisse decken sich im Kern mit traditionellen christlich-theologischen Positionen. Zumal den antichristlichen Aussagen im ältesten Überlieferungsbestand offensichtlich weit größeres Gewicht zu­gemessen wird als den im Lauf der Zeit eingetragenen oder zugewachsenen, was eine Art von »canonical ap­proach« voraussetzt. Da­rüber hinaus versucht der Vf. für die rabbinischen Schulen Babyloniens eine zumindest dem Diatesseron entsprechende Kenntnis neutestamentlicher Inhalte nachzuweisen. Acht Themenkreise werden unter diesen Voraussetzungen präsentiert.
1. (29–49) Die Familie Jesu mit den Texten über (ben) Pandera (oder ähnlich) und ben Stada (oder ähnlich) in tSabb XI,15; jSab XII,3/4 f. 13d; bSabb 104b; bSanh 67a. Der komplizierte Sachverhalt, der auch westliche Diasporatraditionen einschließt, wird vereinfacht als direkte Bezugnahme auf Jesus gedeutet und dabei vor allem eine Polemik gegen die Jungfrauengeburt konstatiert. So auch (46–49) bei einer Passage in bBek 8b mit Beispielen für Absurditäten: Aus dem Kontext gelöst sollen die Rabbinen die absurde Mauleselgeburt auf die Jungfrauengeburt und die Nachgeburt auf die Christen bezogen und die Unmöglichkeit, dass Salz fad wird, soll sich gegen das neutestamentliche Wort vom »Salz der Erde« (Mt 5,13; Mk 14,34 f.) gerichtet haben. Die Kapitel 2–5 enthalten hingegen trotz der vorgegebenen Ergebnisse streckenweise bemerkenswerte Argumente und Hinweise: 2. (51–67) Der missratene Sohn/ Schüler (bSanh 103a und bBer 17a-b), 3. (69–82) Der frivole Schüler (bSanh 107b; bSota 47a), 4. (83–104) Der Torahlehrer (bAZ 16b–17a/ tHul II,24; QohR I,24) und 5. (105–127) Heilung im Namen Jesu (a) tHul II,20 f.22 f.par. jAZ II,2 f.40d–41a; jSab XIV,4 f. 14d–15a; QohR I,24; bAZ 27b; b) jSab II,2 f.40d; jSab XIV,4 f.14d; QohR X,5). Kapitel 6 (129–152) behandelt die Hinrichtung Jesu in bSanh 43a und Kapitel 7 (153–166) die angeblichen fünf Schüler Jesu in bSanh 43a–b. Kapitel 8 (167–189) sucht die Höllenstrafe Jesu als ursprüngliches Motiv in bGitt 55b-56a nachzuweisen.
Kapitel 9 (191–260) Jesus im Talmud bietet das Resümee. Der Vf. findet im bTalmud »eine stolze und selbstsichere Botschaft, die allem widerspricht, was wir von christlichen und späteren jüdischen Quellen kennen« (19); das sei so nur im sasanidischen Babylonien möglich gewesen, nicht aber im byzantinischen Bereich. Doch gerade in Palästina wurde der jüdische Widerspruch gegen die Anmaßung der »frevelhaften« Weltmacht Rom laut und das inzwischen christlich gewordene Rom bzw. »Edom« offen gescholten (J. Maier, Studien zur jüdischen Bibel und ihrer Geschichte, Berlin 2004, 285–325.343–355). Und in der griechischsprachigen Dia­spora war die Auseinandersetzung mit dem sich ausbreitenden Chris­tentum von früh an ein gewichtiger Topos. Während der Ba­by­lonische Talmud in den Schulen Mesopotamiens seine literarische Gestalt annahm, polemisierte man in den Synagogengottesdiensten des Landes Israel sehr deutlich gegen die neue Religion Roms. Dafür ein beredtes Beispiel aus einer synagogalen Dich- tung des Jannaj aus dem 5./6. Jh. (dazu s. schon J. Maier, Ha-pijjût »Ha-‘ômerîm le-kîlaj šôawe-ha-pûlmûs ha-‘anţînôçrî, in: Studies in Aggadah, Targum and Jewish Liturgy in Memory of Joseph Heinemann, hrsg. von E. Fleischer, Jerusalem 1981, 100–110):
[Die da sa]gen »Herr« zu einem Betrüger (Jes 32,5)
und Greuelgötzen sich erwählen (Ez 11,21),
die an Befleckung der Körperentblößung sich freuen,
die einem Toten anhängen statt einem Lebendigen,
die da lärmen und mit Lüge umgehen (Ps 40,5),
die bewährt sind im Ausüben von Bösem,
[die da besudelt] sind durch Totenopfer,
die sich trennen von Deinen Befehlen,
die ihre Taten im Finstern verbergen,
[…] ... zum Tod ihres Gottes,
die niederknien und einem Zusammengebrochenen und Gebeugten huldigen,
die sich erhitzen im Irrtum ihrer Werke,
[die da gla]uben,
die sich betrüben ob ihrer Betrübnis,
die da entbrennen nach denen, die ihre Mysterien schauen,
die Schweineblut als Opfergabe bereiten,
die als ihr Grundanliegen in rechtswidriger Beziehung ausarten,
die für Tohu fasten und sich kasteien,
die Sammlungen von Gebeinen erwerben,
die an ihren Festen dröhnen,
die Trugnichtigkeiten einhalten,
die die Welt mit ihren Lügen erfassen.
(Z. M. Rabinovtz, The Liturgical Poems of Rabbi Yannai,
Jerusalem 1986/7, II, 221 f.)
Die Geschichtskonstruktion des Vf.s entspricht schwerlich der his­torischen Realität. Somit reduziert sich das vorgeblich Neue auf die These, dass die Texte für alle acht Themen von vornherein und nicht etwa erst im Verlauf ihrer Überlieferung auf Jesus bezogen worden sind. Das ist in einzelnen Fällen eine diskutable Möglichkeit, wird aber leider verabsolutiert und überdies alles andere als sine ira et studio präsentiert, außerdem in der Beschreibung der polemischen Züge so zugespitzt, dass man fragen muss: cui bono?
Ein Anhang (261–283) listet die Babli-Handschriften mit Hinweisen auf Zensur auf und bietet einen tabellarischen Überblick über die einschlägigen Themenkomplexe innerhalb dieser handschriftlichen Überlieferungen. Am eindruckvollsten belegt wird damit allerdings die späte Textbezeugung für »den Talmud«.
Die (auf bemerkenswerte Weise ausgewählte) Bibliographie (285– 299) enthält einige einschlägige Titel nicht, vor allem wären für den Leser noch zu ergänzen: Dunn, James D. G., The Parting of the Ways. Between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 20062; Meier, John P., A Marginal Jew, New York Vol. I–II 1991; 2001; Milson, David, Art and Ar­chitecture of the Synagogue in Late Antique Palestine, Leiden 2006; Neus­ner, J., Aphraat and Judaism, Leiden 1971; Atlanta 19992; ders., Rabbinic Literature and the New Testament, Valley Forge 1994; ders., Classical Christianity and Rabbinic Judaism, Grand Rapids 2004; Segal Alan F., Rebecca’s Children, Cambridge 1986.
Ein knappes Sach- und Namenregister (301–308) schließt das Buch ab, das sicher gut im Trend liegt und schon viel Beifall gefunden hat. In der Sache wirklich weiterführen wird aber wohl erst eine gründliche, unvoreingenommene kritische Auseinandersetzung mit Methode, Stil und Inhalt, wobei die geschichtstheologisch motivierte Auseinandersetzung der Rabbinen mit den Weltmächten und insbesondere mit Rom/»Edom« einen angemessenen Stellenwert haben sollte.