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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1316–1318

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Brodsky, David

Titel/Untertitel:

A Bride without a Blessing. A Study in the Redaction and Content of Massekhet Kallah and Its Gemara.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XVIII, 549 S. gr.8° = Texts and Stud­ies in Ancient Judaism, 118. Geb. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-149019-4.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

»Eine Frau ohne Segensspruch ist ihrem Ehemann (für den sexuellen Verkehr) verboten wie eine menstruationsunreine Frau.« Mit diesem Satz beginnt Massekhet Kallah (im Folgenden: MK), der »Traktat über die Braut«, der in der rabbinischen Tradition als außerkanonisch gilt, aber denoch in der Wilnaer Ausgabe des Babylonischen Talmuds mit abgedruckt und auch im Machzor Vitry wiedergegeben ist. Dieser Text sieht auf den ersten Blick wie ein in mischnischem Hebräisch geschriebener Text aus dem tannaitischen Palästina aus; die Forschung (Michael Higger, New York 1936) hat MK in der Tat seither als tannaitisches Werk angesehen, das ein Schüler des Eliezer ben Hyrkan verfasst habe. Der Vf. dieser neuen Studie, der Druckfassung einer an der New York University verfassten Dissertation, weist nun darauf hin, dass MK andererseits Vokabular enthält, das sich vor allem im Babylonischen Talmud findet, mit dem dieser Traktat auch eine Vielzahl von Paralleltexten gemeinsam hat. Die wenigen Parallelen aus Palästina entstammen der nachtannaitischen Zeit (Ausnahmen wie bAv 5,20 und tBM 2,30 bestätigen die Regel). Aufbauend auf diese grundlegenden Beobachtungen unternimmt der Vf. gewissenhafte Textvergleiche. Da­bei unterzieht er die Edition Higgers einer kritischen Beurteilun g– ein eklektischer Text, der die Emendationen des Wilnaer Gaon (Rabbi Eliya ben Salomon), die im Wesentlichen Angleichungen an den Babylonischen Talmud sind, wie textkritische Auskünfte be­handelt. Dabei kommt der Vf. zu dem Schluss, dass der Traktat, ein »tosefta-style text« (4), in die frühe bis mittlere amoräische Periode zu datieren ist (etwa 280–450 n. Chr.), wobei er wahrscheinlich macht, dass die Parallelen des Babylonischen Talmuds fast ausnahmslos von ihm abhängen. Bei der Rezeption der MK-Stoffe in Palästina habe dann die Schule des Rabbi Yochanan eine besondere Rolle gespielt. Im zweiten Hauptteil wird die Datierung von MK durch Analysen der beiden ersten Kapitel von Kallah Rabbati (KR), einem als »Gemara« stilisierten Kommentar zu MK, unterstützt.
Eine ungelöste Frage war bisher, wie die etwas disparat wirkende Thematik des Traktates zu interpretieren sei: Die Kritik von sexuell unpassendem Verhalten (Masturbation, Cunnilingus etc.) wurde dabei gelegentlich als Lob sexueller Enthaltsamkeit gedeutet, die drastischen Schilderungen der pathologischen Konsequenzen von sexuellen Sünden für die Kinder (MK 14 in der Übersetzung des Autors: »One who has sex to the light of a candle will have children with epilepsy«) erschien als eine Art antik-talmudischer »Eugenik« (vgl. 171). Das Problem einer solchen Interpretation liegt darin, dass dann ein Text wie MK 24 nicht in den Zusammenhang passt. Dort ist davon die Rede, dass jede korrekte Weitergabe eines Zitates aus dem Munde eines rabbinischen Weisen Erlösung in die Welt bringe, jede falsche Anführung eines Torawortes aber die Schekhina dazu bringe, das Volk Israel zu verlassen.
Der Vf. versucht, die thematische Kohärenz zu ergründen, in­dem er eine Methode anwendet, die er »Lacanian reading« nennt. »In a sense, MK’s redactors are the religious counterpart to the secular psychoanalysts. The psychoanalysts attempt to describe how we encounter the world, and MK’s redactors attempt to describe how we encounter God« (98). Die Theorie des französischen Psychoanalytikers Jaques Lacan (1901–1981) kommt dem Vf. nach dabei nicht deshalb zum Zuge, weil sie die menschliche Natur im Ganzen oder die rabbinische Literatur erklären könne, sondern dient als analytisches Werkzeug nur für den untersuchten Text (7). Tertium comparationis der in diesem Traktat behandelten Gegenstände (für Wohltätigkeit bestimmtes Geld, Ehefrauen, Worte von rabbinischen Weisen) ist dann jeweils, dass sie ihrem gewöhnlichen Zu­sam­menhang entnommen wurden; es handelt sich um Objekte, die durch ein Gelübde, durch den Akt der Heirat (rabbinisch: »Qiddushin«) oder durch die Tätigkeit der rabbinischen Lehre »geweiht« und der ökonomischen Tauschbarkeit entzogen worden sind. Durch die »Weihe« ist die Ehefrau jedem anderen Manne »verboten«. Das jüdische Verhältnis zu Gott kommt in diesem speziellen Fall dann durch die Art und Weise zum Ausdruck, wie Männer die ihnen »geweihten« Frauen behandeln und wie mit dem nach Lacans Phallustheorie interpretierten Torawort umgegangen wird: Das unzüchtige Aufdecken von Blöße führt zur Sünde.
Vor diesem Hintergrund behandelt der Traktat die Gefahr, die dem unsachgemäßen »Gebrauch« von geweihten Dingen innewohnt. Ein Missbrauch dieser geweihten Dinge ist Diebstahl Gottes und hat Konsequenzen nicht nur für den Einzelnen, sondern für das ganze jüdische Volk und darüber hinaus für den Kosmos. Es ist dem Rezensenten, der in den Geheimnissen von Lacans Sexu­altheorie unbewandert ist, verborgen geblieben, inwiefern der Befund in der Sache bis hierher über das hinausgeht, was mit we­niger theoretischem Aufwand etwa in den Monographien Jacob Neus­ners (ders., Androgynous Judaism, 1993; Ethics of Family Life, 2001) nachzulesen ist. Die Ausführungen des Vf.s, der sich in seinen resümierenden Abschnitten auch auf die feministische Theoretikerin Judith Butler und den Kabbalaforscher Elliot Wolfson stützt, gehen freilich weiter. Seine Rekonstruktion des sachlichen Gehaltes von MK findet ihre Sinnspitze in der Aussage, dass die Tora als weiblich erscheint (vgl. MK 4): Frauen, die nach der Halacha nicht zum Toralernen verpflichtet sind, können demnach die Tora nicht haben, aber sie können »die Tora sein«, sie verkörpern (175). Dieses Frauenbild, selbst dort, wo Frauen in MK 9 mit einem Stück Fleisch verglichen werden, ist dem Vf. zufolge daher nicht in die Skala des »frauenfeindlich-feministischen Kontinuums« einzuordnen. Diese Er­kenntnis führt in einem »Vaginal Gods and Godlike Vaginas« überschriebenen Abschnitt zu Überlegungen über die Koinzidenz, dass im rabbinischen Schrifttum sowohl Gott als auch das weib­liche Geschlechtsteil »Maqom« (»Ort«) genannt werden: »Warum gibt es blinde (Kinder)? Weil sie (d. h. die Männer beim ehelichen Verkehr) diesen Ort anschauen …« (MK 9) – eine Regel, die vom Vf. so paraphrasiert wird: »In this way, just as in the torah none shall see God and live …, in MK none shall see the vagina without being castrated« (438). Auch wenn ein talmudischer Beleg für vagina-induzierte Kastrationsangst angeführt werden kann (nach bSan 21a hasste Amnon sein Vergewaltigungsopfer Tamar, weil eines ihrer Schamhaare seinen Penis abgeschnitten habe – hängt diese Geschichte aber überhaupt mit MK zusammen?), wirkt diese Schlussfolgerung doch etwas frei freudianisierend. Der Vf. interpretiert auch die Blindheit und Stummheit des Nachwuchses, nach MK Folge unzüchtigen Verhaltens beim Sexualverkehr, im übertragenen Sinne als Kastration; zugleich wird aber der Mund (438: »insofar as it is an orifice«) mit der Vagina parallelisiert. Der Vf. erläutert weiter, dies bedeute, dass das Mysterium tremendum, »the divine presence«, nach diesem Traktat, wenn man das jüdische Bundeszeichen, die Beschneidung, wörtlich nehme, durch den Phallus, jenen nach Lacan verdeckten »Signifikanten«, erfahren werde (98). Wo die Theorie am Ende noch Butler und Lacan übertrumpfen will, liest man des Tiefsinns vielleicht zu viel: »Men, like God, are the vagina, and thereby originate the phallus. Women are the phallus and have the vagina, … which men, though they are it, have no control over it« (438). Abgesehen davon, dass Passagen wie diese die Lektüre zu einem kurzweiligen Vergnügen machen, besteht das Verdienst dieser Untersuchung in der minutiösen Nachzeichnung der Traditions- und Redaktionsprozesse, die zu diesem außerkanonischen Text geführt haben, dem Nachweis und der Analyse der Parallelen im rabbinischen Schrifttum (mit ausführlichen Synopsen im Anhang) und anregenden religionsgeschichtlichen Vergleichen (bis hin zu Beispielen aus der mesopotamischen, patristischen und persischen Literatur). Ein Quellen-, Namen- und Sachindex macht das Buch darüber hinaus zu einem nützlichen Arbeitsinstrument.