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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1313–1315

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Sturlese, Loris]

Titel/Untertitel:

Per perscrutationem philosophicam. Neue Perspektiven der mittelalterlichen Forschung. Loris Sturlese zum 60. Geburtstag gewidmet. Hrsg. v. A. Beccarisi, R. Imbach u. P. Porro.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2008. XII, 495 S. gr.8° = Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi, Beiheft 4. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-7873-1869-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Dass ein Italiener ein hervorragender Kenner der deutschen mittelalterlichen Philosophiegeschichte ist, stellt sicher eine Besonderheit dar. Sturlese gehört zu dem Kreis um Kurt Flasch (auch »Bochumer Schule« genannt) und hat mit ihm und Freunden an der Edition der Schriften Dietrichs von Freiberg mitgewirkt, ja die Idee eines »Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi« entwickelt und darüber hinaus zwei Standardwerke zur deutschen Philosophiegeschichte des Mittelalters verfasst (Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen [784–1280], München 1993; Storia della filosofia tedesca nel Medioevo. Il secolo XIII, Firenze 1999, leider bis heute nicht in deutscher Sprache vorliegend), dazu zahlreiche Aufsätze. Zugleich war er eine Zeit lang stellvertretender Präsident der Eckhart-Gesellschaft und an der kritischen Ausgabe der Werke Eckharts beteiligt. In 23 Beiträgen wird im vorliegenden Band die Erforschung der mittelalterlichen Philosophie vorangetrieben. Das ist sicher die beste Ehrung des Jubilars. Die Tatsache, dass S. seit 1994 Professor in Lecce ist, bringt es mit sich, dass die meisten seiner heutigen Schüler Italiener sind und somit auch neun Aufsätze in italienischer Sprache verfasst sind, dazu zehn in deutscher und je zwei in englischer und französischer Sprache.
Einleitend stellt P. Porro fest, S.s Schlüsselthema sei die »Idee, es gäbe bestimmte Gruppierungen oder Netze von Texten und Autoren, die als regionale Philosophien bestimmt werden können«; diese Gruppierungen sollten vom Philosophiehistoriker identifiziert und rekonstruiert werden; er solle aber nicht »illusorische Perspektiven der Kontinuität und der Universalität« suchen (1). Auch wenn es im Mittelalter sicher keine »nationale[n] Philosophien« gab, so ist S. doch davon überzeugt, dass in der Philosophiegeschichte die »regionale Perspektive« beachtet werden muss (4). Im Blick auf die sog. deutsche Dominikanerschule sieht er ihre Gemeinsamkeit in der Tendenz, »auf die Kraft der Vernunft zu vertrauen: Dieses Vernunftvertrauen wird gesehen als ein Weg der Selbsterkenntnis und der Selbstverwirklichung« (9). Ob man von »Selbstverwirklichung« sprechen kann, bezweifelt der Rezensent, ist doch die Selbsterkenntnis gebunden an die Gotteserkenntnis, die dem Menschen gegeben wird.
Es sei dem Rezensenten als einem Freiberger erlaubt, sich vor allem mit den Beiträgen zu befassen, die dem genius loci, Dietrich von Freiberg, gewidmet sind.
Kurt Flasch meint in seinem Beitrag »Dietrich von Freiberg und Siger von Brabant. Eine Studie zur ›Schule‹ Alberts des Großen«, dass beide Denker nur sehr differenziert der Albert-Schule zuzuordnen sind. Beide bewegen sich auf dem Boden der Aristotelesinterpretation. Das wird besonders deutlich an der Interpretation von Buch VII der Metaphysik des Stagiriten. Die Berührungsfläche zwischen beiden ist erstaunlich. Dass Dietrich die Metaphysikvorlesung Sigers in Paris gehört hat, ist nicht nachweisbar. Und im Blick auf die Offenbarungstheologie haben beide sich grundsätzlich geäußert, beide durchaus positiv. Siger versteht sie nicht nur als »›Glaubenswissenschaft‹ im heutigen Wortsinn«, sie hat »die Welt zum Gegenstand: divina, naturalia, selbst mathematica«. Dietrich dagegen hat die »Unterscheidung Augustins zwischen dem ordo naturalis providentiae und ordo voluntariae providentiae« aktualisiert und »fügt den Ausblick auf das gute und selige Leben hinzu« (135).
Burkhard Mojsisch führt mit seinem Beitrag »Die Theorie des Bewußtseins (ens conceptionale) bei Dietrich von Freiberg« einen früheren Aufsatz weiter. Dietrich entwickelt »eine neue Theorie des Bewußtseins ..., in der das Bewußtsein als konstitutiv-konstruktiv angesehen wurde«. Während bei Aristoteles die Form die Materie bestimmt, ist es für ihn »die Wirkursache, die nichts voraussetzt, aber von der Form vorausgesetzt wird«. »Der Intellekt setzt ... real Seiendes, nicht bloß gedanklich Seiendes, indem er definiert« (147–150).
In den Niederlanden ist die Imago- und Intellektlehre Dietrichs aufgenommen und kritisch in Auseinandersetzung mit Thomas und Eckhart erklärt worden. Dietrichs Intellektlehre wird in Eckharts Lehre vom Seelengrund integriert (so Alexandra Beccarisi in »Dietrich in den Niederlanden«, 292.306).
Thomas Jeschke (»Die Ablehnung des tätigen Intellekts bei Durandus«) weist nach, dass Durandus die Annahme eines tätigen Intellekts, wie ihn Diet­rich gelehrt hat, ablehnt, weil »die Annahme eines intellectus agens als eines Vermögens nur angemessen sei aufgrund einer Tätigkeit, die dieser gegenüber den phantasmata ausübe« (274).
Andreas Speer schreibt über den augustinischen Begriff »abditum mentis« und stellt in seinem Beitrag fest, dass Dietrich den bis dahin eher vagen Sprachgebrauch dieses Begriffs »terminologisch geschärft sowie systematisch mit dem Thema der Gottesgegenwart verknüpft« hat (459 f.). Bei Eckhart wird er dann »zum Schlüssel für die ... besondere Gottesnähe des Menschen« (467).
Die wenigen Beispiele, die der Rezensent ausgewählt hat, machen deutlich, wie die Forschungen des Jubilars fortgeführt und prä­zisiert worden sind. Das betrifft nicht nur Dietrich von Freiberg und die anderen Genannten, sondern ebenso weitere mittelalter­liche Denker wie Ulrich und Nikolaus von Straßburg, Heinrich von Lübeck, Berthold von Moosburg, Dante, Nikolaus von Kues usw.
Ein breit gefächertes Florilegium wird in den Beiträgen dem Jubilar gewidmet. Sie stellen ein würdiges Geschenk an ihn dar.