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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1307–1308

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Bärsch, Jürgen, u. Bernhard Schneider [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liturgie und Le­bens­welt. Studien zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte zwischen Tridentinum und Vatikanum II.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2006. X, 586 S. gr.8° = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 95. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-3-402-04075-1.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Der Band ist dem Trierer Liturgiewissenschaftler Andreas Heinz zum 65. Geburtstag gewidmet und enthält 26 Aufsätze von katholischen Liturgiewissenschaftlern und zusätzlich einen Beitrag des Nestors der evangelischen Liturgik, Frieder Schulz, der im Dezember 2005 verstarb, so dass es sich bei seinen Ausführungen über »Segnungen als neues Thema in der evangelischen Kirche« (519–530) um dessen letzten publizierten Aufsatz handeln wird. Wie Schulz schon mehrfach vor der »Entchristologisierung« von Gebeten warnte, so macht er auch hier noch einmal auf die Tendenz aufmerksam, mit entchristologisierten Segnungen bei einem Christentum »light« (mit Bonhoeffer: bei einem »billigen« Segen, 528) zu landen.
Die Aufsätze werden von einer Einführung und einem Ausblick gerahmt, in denen Bernhard Schneider (5–14) und Jürgen Bärsch (543–554) das Forschungsprogramm »Liturgie und Lebenswelt« umreißen. Dabei darf der Lebensweltbegriff nicht philosophisch (im Sinne der Phänomenologie) überdehnt werden; er steht in diesem Band vielmehr für die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens seit dem 16. Jh., in denen liturgisches Leben seine spezifische Wirkung entfaltet (wie z. B. Arbeitswelt, Feste, Krieg, Strafrecht, NS-Zeit); daneben finden sich aber auch viele Beiträge zu klassischen kirchlichen Handlungsfeldern (Erstkommunion, Ehe- und Priesterjubiläum, Gesang- und Gebetbücher, Kirchenmusik). Der Band ist gegliedert nach I. »Grundlagen« (17–70); II. »Felder und Räume des Lebens« (73–202: hier geht es um einzelne unbekann­tere Autoren, um Kriegspredigten, Staatsgottesdienste, um die Arbeitswelt und Weihnachtsmarktkultur); III. »Wenden des Lebens« (205–312: hier finden sich Beiträge zu Muttersegnung, Erstkommunion, Ehe- und Priesterjubiläen); IV. Krisen und Grenzen des Lebens (315–412: hier geht es um Beiträge zu Formen von liturgischer »Extrem-Seelsorge«, wie das Franz Kohlschein benennt, um Exorzismus, Hinrichtungen, Pest und Cholera sowie Sterbe- und Begräbnisseelsorge); V. »Mittel des Lebens« (415–515: hier wird die individuelle Frömmigkeit in Gebetbüchern beschrieben) und zum Abschluss VI. noch einmal theoretisch bilanzierende »Perspektiven« (519–553); ausführliche Register schließen sich an (555–582).
Wie häufig bei Festschriften ist also ein bunter Strauß von Beiträgen zusammengekommen, die von den Herausgebern (und Schülern von A. Heinz) Jürgen Bärsch (Liturgiewissenschaftler in Eichstätt-Ingolstadt) und Bernhard Schneider (Kirchenhistoriker in Trier) geschickt unter der Perspektive der »Lebenswelt« zusam­mengestellt sind. Hier erfährt besonders der protestantische Leser historische und konfessionsspezifische Einzelheiten, von denen sonst kaum die Rede ist, wenn die liturgiehistorische Perspektive allein die Messe/der Sonntagsgottesdienst ist.
Die Praxis und Tradierung des Glaubens vollzieht sich eben (auch) auf ganz anderen, alltäglichen Wegen öffentlichen und privaten Lebens. Im Zusammenhang seiner Darstellung von »Staatsgottesdiensten« kann Alexander Saberschinsky (121–140) zeigen, wie schon J. v. Eichendorff (und nicht erst der immer wieder zitierte E.-W. Böckenförde!), darauf hinwies, »dass der Staat ideell aus Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht hervorbringen kann« (131). Be­sonders eindrücklich ist auch die Darstellung der priesterlichen Seelsorge bei der öffentlichen Hinrichtung (nach dem Bamberger Rituale von 1724), die von Franz Kohlschein als eine öffentliche Form der Bekehrung des armen Sünders dargestellt wird (329–349).
Dass die individuelle Gebetspraxis während und neben der Mess­handlung ein Spezifikum katholischer Frömmigkeit war, wo­durch kirchliches und privates Christentum in einer Form des »living apart together« aneinander gebunden waren, wird in be­eindruckender Weise plastisch in der Analyse eines von Reiner Kaczynski aufgefundenen Gebetbuches aus dem 18./19. Jh. (439–456). Hier wird noch einmal deutlich, dass die Predigt für das lange vorherrschende katholische Empfinden eher als Unterbrechung der Liturgie denn als deren Fortschreiten galt (dazu zitiert Kaczynski J. A. Jungmann, 448) – und man erinnert sich, dass derartige Thesen heutzutage im populären Gewande (in Martin Mosebachs Streitschrift »Häresie der Formlosigkeit«) erneut begegnen.
Besonders eindrücklich in diesem Abschnitt ist auch Barbara Stambolis’ Darstellung der Rolle von Kirchenliedern in der NS-Zeit (»Die Reihen … fest geschlossen in hohem Glaubensmut«, 491–515), in der einleuchtend gezeigt wird, dass die »politische Religion des Nationalsozialismus« in den Kriegsjahren verblasste und eine neue Anziehungskraft von Gottesdienst und Kirchenmusik entstand (512), indem etwa die Jugendkomplet ganz neue Konnotationen erhielt (»Brüder, seid nüchtern und wachsam – widersteht im Glauben fest!«, 509). Die katholische Theologie der Kirchenmusik selbst, so Albert Gerhards, ist in den letzten Jahrzehnten dabei, sich von der neuscholastischen »Engführung auf die Soteriologie« zu lösen und eine Ästhetik auf dem Hintergrund der weiten kosmischen Christologie der biblischen und patristischen Theologie wiederzugewinnen (432, in einem Beitrag zu W. A. Mozart).
Wichtig in forschungsgeschichtlicher Hinsicht ist aber nicht nur der Blick auf die Alltagsfrömmigkeit, sondern schon der Ge­genstand des Bandes überhaupt, eben die Liturgie zwischen dem Tridentinum und dem 2. Vatikanum, die offensichtlich lange Zeit– nicht nur dem weniger kundigen Protestanten – als eine »Periode eherner Einheitsliturgie« (und Monotonie) erscheinen mochte. Auch hier ist die Wirklichkeit eben anderes strukturiert, als es kirchlich approbierte Bücher und der ausschließlich wissenschaftliche Fokus auf diese erscheinen lassen. Der mit der Festschrift Geehrte, Andreas Heinz, hat durch seine Studien dazu beigetragen, dass der »lange Zeit eher abschätzig beurteilten nachtridentinischen Liturgiegeschichte« überhaupt differenzierte Aufmerksamkeit zuteil wurde (so die Herausgeber im Vorwort, VII f.).
Auf den Band wird man gern als auf ein Kompendium katholischer liturgischer Frömmigkeit neben der Hauptströmung von Missale und Pontifikale zurückgreifen, zumal sich hier die Linien in die Kulturwissenschaften, insbesondere in die Geschichtswissenschaft (in die »Profanhistorie«), deutlich ziehen lassen. Lebensweltlich ebenso interessant ist allerdings auch, dass der Protestantismus in sämtlichen Beiträgen des Bandes – offensichtlich der untersuchten Realität entsprechend – keinerlei Rolle spielt. Auch unter der Perspektive von »Liturgie und Lebenswelt« stellt also das 2. Vatikanum die entscheidende Epochenschwelle einer Öffnung zur ökumenischen Perspektive dar.