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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

984–986

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kahrs, Christian

Titel/Untertitel:

Evangelische Erziehung in der Moderne. Eine historische Untersuchung ihrer erziehungstheoretischen Systematik

Verlag:

Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1995. 285 S. 8°. Kart. DM 56,­. ISBN 3-89271-601-3

Rezensent:

Bernd Schöder

Die von Volker Drehsen betreute Dissertation thematisiert die ,neuzeitlichen Konstitutionsbedingungen der Religionspädagogik´ (vgl. 213): Sie sucht "das Bedingungsgefüge, in dem sich evangelische Erziehung in der Moderne wird entfalten müssen, erziehungstheoretisch zu erhellen" (31).

K. verfaßt damit "Prolegomena" (32) zu einer "Theorie evangelischer Erziehung", die er im 1. Kap. als "Aufgabe Praktischer Theologie "(12) darstellt: Weder die allgemeine Pädagogik noch die evangelische Praktische Theologie hätten eine solche bisher bereitgestellt (11).

Indem er "Erziehung" zum Leitbegriff erhebt, folgt er begrifflich wie sachlich H.-E. Tenorth ­ ohne damit zum andernorts favorisierten Bildungsbegriff Stellung nehmen zu wollen (13).

Kap. 2 entschlüsselt die Moderne ­ im Anschluß an R. Koselleck ­ als Erfahrungsraum geschichtlicher und kultureller Kontingenz (19). Erziehung, für die "eine temporale Struktur" (13) konstitutiv ist, kann nun nicht mehr durch bloße Verlängerung der tradierten "objektive(n) Ordnungs- und Orientierungsvorgaben" (23) auf Zukunft Bezug nehmen, sondern muß diese aktiv gestalten. Die Frage ist, welche Rolle "christliche Tradition" oder "evangelische Erziehung" dabei noch spielen kann, denn sie droht sowohl "in geschichtlich-diachroner Perspektive" als auch "in kulturell-synchroner Perspektive" (30) ihrer Plausibilität verlustig zu gehen. Dies markiert das "Doppelproblem der Theorie evangelischer Erziehung in der Moderne" (30).

"Historisch-systematische Analyse" (32) soll hier wichtige Umgangsformen mit diesem Doppelproblem im 19. und 20. Jh. rekonstruieren. Auswahlkriterium der Theorien ist neben deren Repräsentativität (33.36) ihre Wirkung (34 f.37). Im übrigen ist K. sich ihres "lediglich heuristisch-pragmatischen Wert(es)" bewußt (37 A. 52).

Kap. 3 stellt als "Grundlagenkonzepte" Palmer und Ziller bzw., weniger ausgleichsfähig, ­ Zezschwitz und Thrändorf gegenüber. Theologisch begründete "kirchliche Katechetik" und philosophisch begründete "Pädagogik erziehenden Unterrichts" unterscheiden sich in ihrer Auffassung vom Christentum, das von Zezschwitz "als heilsanstaltliche Kirchlichkeit" begreift, Thrändorf dagegen "als subjektiv bestimmte Frömmigkeit" (125). Dies hat "erziehungstheoretisch äußerst weitreichende Folgen" (126): Die katechetische Linie setzt "vergangenheitsorientiert" auf die "Verheißung kirchlich garantierter lebensweltlicher Sicherheit" (128), sucht also die Konsequenzen der Moderne zu "depotenzieren"; die pädagogische Linie vertraut demgegenüber "zukunftsorientiert" auf die "Gestaltbarkeit guten gesellschaftlichen Lebens" (127.214). Trotz dieser Unterschiede betrachten beide die Erfahrung geschichtlich-diachroner Kontingenz noch als überwindbare "Krise"(nicht als unhintergehbares "Strukturmerkmal" der Moderne; 129) und blenden "das Phänomen kulturell-synchroner Kontingenz... weitgehend" aus (135).

Ab 1871 wird dies Procedere zusehends obsolet. ­ Kap. 4 beschreibt den "Weltanschauungskampf" bzw. die "Erfahrung kultureller Kontingenz an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert". In deren Folge erarbeiten F. Niebergall und R. Kabisch "Revisionskonzepte" (5. Kap.), die auf die "Umformung kirchlicher Katechetik und erzieherischem Unterrichts zu einer Theorie evangelischer Erziehung unter den Bedingungen einer weltanschaulich pluralen Kultur" zielen. Sie fragen, "ob... das Christentum erziehungstheoretisch überhaupt als gesellschaftliches... Orientierungsmuster geltend gemacht werden soll" (142). Ihre Antwort greift auf den "Allgemeinbegriff der Religion" zurück (211). Dabei setzen auch sie die Modernitätskompatibiltät des Christentums ohne Begründungsaufwand voraus (179.206).

Das 6. Kap. schließlich resümiert "die erziehungstheoretische Systematik evangelischer Erziehung in der Moderne". K. fragt hier erstens, ob evangelische Erziehung in der Moderne überhaupt möglich ist, um zweitens konstitutive Bausteine einer entsprechenden Theorie vorzustellen. 1. Auch im "Erfahrungsraum geschichtlich-kultureller Kontingenz" kann keine Theorie der Erziehung auf "bestimmte Beziehungen auf die Zukunft" (224) verzichten. Solche sind ­ mit Jürgen Oelkers ­ aber nur noch "im Modus der ,Utopie´", näherhin unter Bezug "auf ein... unabhängiges Absolutes" möglich (225 f). Bedarf somit jede moderne Erziehungstheorie der metaphysisch-religiösen Dimension, ist evangelische Erziehungstheorie als eine ihrer konzeptionellen Konkretisierungen unter anderen zu begreifen und als solche möglich (226.254). 2. Eine Theorie evangelischer Erziehung muß "die Gegenwart als Aufgabe" verstehen und "Gegenwarts- und Zukunftsorientierung wechselseitig aufeinander" beziehen: "Diese Struktur... sei mit dem Begriff der Problemorientierung bezeichnet" (233).

K. konzediert, daß diese "systematisch-pädagogische" Verwendung des Begriffs "nicht gebräuchlich" sei (234), erkennt sie aber ihrem Sachgehalt nach sowohl in der bildungstheoretischen Pädagogik als auch in der "fachdidaktisch-konzeptionellen Rede(weise)" innerhalb der Religionspädagogik (235) wieder. Modernitätskompatibel wird eine problemorientierte Theorie evangelischer Erziehung erst, wenn sie "äquivalenzfunktional" (N. Luhmann; 241) denkt, also davon ausgeht, "daß die Funktion der gesellschaftlichen Ordnungs- und Orientierungsstiftung prinzipiell auch anders als durch das Christentum erfüllt werden kann" (242). Die notwendige "Einschätzung der kulturellen Bedeutung der funktionalen Äquivalente des Christentums" (243) kann nur "unter Zugrundelegung des Allgemeinbegriffs der Religion" (244) als Verständigungsrahmen gelingen.

Kurz: Eine Theorie evangelischer Erziehung hat in ihrer Zuordnung zur allgemeinen Pädagogik und in ihrem Bezug auf den Religionsbegriff ,Religionspädagogik´ zu sein.

Die Arbeit gibt der intendierten "historische(n) Rekonstruktion von Problemstellungen der Theorie evangelischer Erziehung" einen sachlich und begrifflich klaren Rahmen, der gleichwohl gute Lesbarkeit zuläßt und die materiale Darstellung der sechs Religionspädagogen nicht preßt. Allerdings ergibt die Darlegung, daß die Autoren nicht oder nur unzureichend auf das skizzierte ,Doppelproblem der Moderne´ reagieren. Der systematische Ertrag, die Notwendigkeit der ,Problemorientierung´ und des Rückgriffs auf den allgemeinen Religionsbegriff, ist zwar historisch eingebettet, seine pädagogische und theologische Legitimität ist jedoch weniger begründet als postuliert ­ zumal die Auseinandersetzung mit Gegenpositionen weder diachron (Bohne u.a.) noch synchron (Nipkow; H. Schmidt) gesucht wird. Der Rekurs auf den Erziehungs- statt auf den Bildungsbegriff erweist sich so als implizite konzeptionelle Entscheidung.