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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

976–978

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Posern, Thomas

Titel/Untertitel:

Strukturelle Gewalt als Paradigma sozialethisch-theologischer Theoriebildung

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Wien: Lang 1992. 445 S. 8o = Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII: Theologie, 465. Kart. DM 98,­. ISBN 3-631-44721-3

Rezensent:

Hartmut Kreß

Diese bei Falk Wagner verfaßte Diss. widmet sich dem für die Sozialethik zentralen, komplexen Thema gesellschaftlicher struktureller Gewalt. Vor allem die Friedensforschung, namentlich der norwegische Friedensforscher Johan Galtung, hat das Phänomen struktureller Gewalt erörtert. Hiervon ausgehend bedenkt die Diss. zugleich Grundlegungsfragen der evangelischen Ethik. Die Arbeit versucht, eine theologisch-dogmatische "Tieferlegung" der Gewaltreflexion vorzutragen. Sie möchte damit zugleich Anstöße für eine dogmatische Begründung von Ethik im allgemeinen vermitteln. Daß sich die Diss. so sehr für das Thema struktureller Gewalt interessiert, beruht auf einem von ihr beklagten Defizit evangelischer Ethik: Diese sei traditionell in individualistischen Engführungen befangen gewesen und habe das Verhältnis von Struktur und Person nicht hinreichend aufgearbeitet (110, 200).

Die Arbeit ist materialreich angelegt. Allerdings wären oftmals Straffungen in der Darstellung wünschenswert gewesen. P. betont, daß er eine rational argumentierende theologische Ethik anstrebt; eine dogmatische Überfremdung oder ein dogmatisches "Überfliegen" (242) der Wirklichkeit sollen vermieden werden. Dieser Intention ist aus Sicht des Rez. zuzustimmen.

Der erste Teil der Arbeit (19-107) informiert über die Entwicklung der Friedensforschung zu einem neueren eigenständigen Forschungszweig. P. stellt Galtungs Definition von Gewalt vor: "Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung" (zit. 37). Der Begriff der strukturellen Gewalt hat den Sinn, den Blick auf die Wirkungen von Gewalt, d. h. auf die Opfer von Gewalt, die leidenden Menschen, zu lenken. Galtung spricht auch von "sozialer Ungerechtigkeit" (41). Anders als direkte, personale Gewalt läßt sich strukturelle Gewalt ihm zufolge nicht unmittelbar auf Gewaltsubjekte und auf subjektive Intentionen zurückführen (37f). Galtungs Gewaltbegriff wird von P. freilich als teilweise zu vage, abstrakt und geschichtslos kritisiert (41, 56, 223).

Im zweiten Teil der Diss. (109-290) übt P. nachhaltige, gelegentlich recht scharf formulierte Kritik an Desideraten bisheriger evangelischer Ethik und kirchlicher Denkschriften. Er zeichnet den Antagonismus zwischen neulutherischer Zwei-Reiche-Lehre und der Lehre von der Königsherrschaft Christi nach und greift die bekannten Einwände gegen beide Denkansätze auf (angeblicher Verzicht auf eine theologische Ethikbegründung in der Zwei-Reiche-Lehre; Überspringen der eigenständigen Weltwirklichkeit im Barthianischen Denkmodell). Materialethisch mahnt er ­ zu Recht ­ an, daß eine ethische Reflexion von Gewalt sich thematisch nicht nur auf die Staatsethik, d. h. auf die "Staatsgewalt" beschränken darf (168), sondern auch andere, neue Formen von Gewalt in Blick nehmen sollte. Seinerseits versucht er, der Kritik an struktureller Gewalt eine theologische Grundlage zu verleihen. Diese sieht er im Anschluß an Falk Wagner in der Trinitätslehre. Demzufolge könne durch eine begrifflich kategoriale Entfaltung des trinitarischen Gottesbegriffs ­ der trinitarische Gott als Identität von Identität und Nichtidentität, als relationale Selbstexplikation im Anderen und als Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit (228 f.) ­ die Schwäche der bisherigen Ethikkonzepte vermieden werden. In Analogie zur Struktur des trinitarischen Gottesbegriffs gelte für den Menschen, daß eine gelingende menschliche Existenz auf der Freiheit in der Achtung vor dem anderen Menschen und auf der Selbsterfassung im Umweg über die Institutionen beruhe.

P.s Buch schätzt den Menschen dabei als "gleichnisfähig für Gott" ein (232); der Mensch sei "das erste und einzige Selbstzitat Gottes" (231). Aus der Analogie von Gott und Mensch soll jedenfalls eine christliche Fundierung für ein vertieftes Freiheitsverständnis gewonnen werden. Hieraus resultiert für P. zugleich die theologisch "tiefergelegte" Kritik an jedweder Form struktureller Gewalt. Strukturelle Gewalt könne als trinitätstheologisch "aufgehoben" (231) gelten.

Als theologisches Argumentationsverfahren schlägt P., ausgehend vom trinitarischen Gottesbegriff, also eine Methode der Strukturanalogie vor (127, 240, 248). Hiermit verbindet er einen überaus hohen Anspruch: Die Theologie könne nunmehr aus sich selbst heraus, nämlich aus dem Gottesbegriff, einen Zugang zu ethischen Themen, z. B. zur Demokratie- oder Institutionentheorie gewinnen. Von der Theologie könnten "komplexe Sachverhalte wie etwa das Verhältnis von Individuum und Institution an sich selbst theologisch erfaßt werden, inwieweit sie nämlich an ihrer Stelle dem in Gott gesetzten Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit entsprechen" (240). Die Theologie gewinne hiermit einen eigenen Zugang zur Ethik, so daß sie es "nicht mehr nötig" habe, "lediglich Resultate aus anderen Wissenschaften, etwa der FF [= Friedensforschung], zu rezipieren" (234).

Es stellt sich jedoch die Frage, welcher Erkenntnisgewinn und welche zusätzliche Plausibilität aus der von P. vorgeschlagenen trinitarisch-strukturellen Argumentation für die Ethik eigentlich erzielt wird. Hier ist m.E. Skepsis angezeigt. Denn die Strukturanalogien bleiben abstrakt-formal. Innerweltliche Sachverhalte werden durch die Strukturanalogien de facto nur nachträglich in theologische Kategorien gefaßt und im Nachhinein begrifflich auf die Trinitätslehre bezogen. Sachlogisch betrachtet lassen sich die Institutionentheorie und die Trinitätslehre schwerlich miteinander verknüpfen. Auch der Gedanke, daß menschliche Freiheit als eine "vermittelte" Freiheit ­ nämlich im Wechselspiel zwischen Individuum und Mitmensch sowie Individuum und Institution ­ interpretiert werden sollte, erschließt sich nicht erst durch die Darlegung einer trinitarisch begründeten Strukturanalogie. Vielmehr handelt es sich um eine Einsicht, die in der neuzeitlichen Philosophie und Theologie durch kulturphilosophische, anthropologische und sonstige ethische Analaysen vielfach zur Geltung gebracht und begründet worden ist. Im übrigen werden mit Hilfe der von P. vorgeschlagenen Strukturanalogien nur äußerst allgemein bleibende sozialethische Aussagen gewonnen. Z.B. resultiert für P. aus der Relation von Allgemeinheit und Besonderheit in Gott die ethische Konsequenz: "Staat und Bürger bzw. Institution und Einzelner haben sich als füreinander aufschließbar zu erweisen" (239). Materialethische Einsichten und konkrete Impulse, die den Strukturanalogien tatsächlich zu entnehmen wären, müßten genauer aufgezeigt werden.

Desungeachtet weist die Arbeit, anknüpfend an Galtung, zu Recht darauf hin, daß strukturelle Gewalt ­ anders als direkte, personale Gewalt ­ nicht unmittelbar subjektiv-intentional zurechenbar ist. Damit ist das Problem aufgeworfen, wie das Verhältnis von individueller und überindividueller Verantwortung heute zu definieren ist. Die Ethik wird der verwickelten Frage nach dem Verhältnis von Person und Struktur, die in der vorgelegten Arbeit angesprochen wird, angesichts der Komplexität und Vernetzung der Lebenswelt in Zukunft noch ausführlich nachzugehen haben.