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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

974–976

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Gloria

Titel/Untertitel:

The Character of Our Communities. Toward an Ethic of Liberation for the Church

Verlag:

Nashville: Abingdon Press 1995. 202 S. gr. 8o Kart. $ 16.95. ISBN 0-687-00283-4

Rezensent:

Heinricht Bedford-Strohm

Das Thema "Gemeinschaft" ist angesichts vielfach beklagter Individualisierungserscheinungen, zumindest in den westlichen Gesellschaften, von unverminderter Aktualität. Vor allem in der U.S.-amerikanischen Ethik sind seit den 80er Jahren, zusammengefaßt unter dem Stichwort "Kommunitarismus", immer mehr Stimmen laut geworden, die für einen mehr oder weniger grundsätzlich neuen Kurs in der Weiterentwicklung der geistigen und kulturellen Grundlagen moderner Gesellschaften plädieren. Dem Universalitätsanspruch der Aufklärungstradition wird ein Denken gegenübergestellt, das die Situiertheit jeglicher Tradition in der je eigenen Gemeinschaft betont und von daher den mit dem Namen Kant verbundenen Versuch der Begründung universaler Normen auf der Basis allgemeiner Vernunft ablehnt. In der Theologie ist diese Aufklärungskritik und die Neubesinnung auf die eigene Gemeinschaft vor allem mit dem Namen Stanley Hauerwas verbunden. Hauerwas gehört zu den Theologen, die am meisten genannt werden, wenn von interessanten zeitgenössischen Entwürfen in der amerikanischen Ethik die Rede ist.

Um so wichtiger ist die Tatsache, daß mit A.s Veröffentlichung nun ein Buch erschienen ist, das viele von Hauerwas´ Intentionen teilt, aber sie gleichzeitig aus der Perspektive einer feministischen Befreiungstheologie einer scharfsinnigen Kritik unterzieht. A., die an der Universität von Detroit/Mercy lehrt, unterstreicht selbst die Konvergenzen zwischen einem feministischen Ansatz und Hauerwas´ Theologie (25): Alles menschliche Wissen verdankt sich einem bestimmten sozialen und historischen Kontext, der Charakter der Gemeinschaften, von denen wir herkommen, prägt unsere ethische Praxis. Beide Ansätze teilen die Kritik an der liberalen Sozialtheorie mit ihrem Bild eines isolierten, individuellen, rationalen Selbst, das sich seine Überzeugungen und Werte auf dem Markt der Ideen selbst auswählt. Beide lehnen jede Trennung von öffentlicher und privater Moralität ab und sehen die Kirche als Gefangene von Ideologien, die mit dem Glauben nichts zu tun haben.

Aus mehreren Gründen sieht A. die christliche Ethik mit Hauerwas aber vom Regen in die Traufe kommen: Sein narrativer Ansatz wird zum Sprungbrett für den erneuten Rekurs auf universale Wahrheiten. Die Annahme eines benennbaren und allgemeine Verbindlichkeit verlangenden Charakters christlicher Gemeinschaft in der Kirche geht von einer Homogenität christlicher Moralvorstellungen aus, die in der Realität gar nicht existiert.

In Wirklichkeit spiegelt der Pluralismus ethischer Überzeugungen eben auch innerhalb der Kirche die Unterschiedlichkeit der sozialen Kontextuierung wider. Was für Hauerwas zur unaufgebbaren Grundlage christlicher Ethik gehört, ist ­ so A. ­ in hohem Maße geprägt von seiner Herkunft als weißer Mann der sozialen Mittelklasse. Sein unbedingtes Eintreten für prinzipielle Gewaltlosigkeit etwa dient letztlich der Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen zwischen den Geschlechtern, zwischen den Rassen und zwischen sozialen Klassen. Die ganze Dramatik ungerechter Machtverhältnisse wird einfach übergangen. Das Phänomen der Gewalt gegen Frauen wird in seiner Argumentation für Gewaltlosigkeit ignoriert. "When differences caused by class, sexual orientation, race, and gender are ignored" ­ so A. ­ "Hauerwas´ gospel of nonresistance functions to contribute to the violence experienced by the marginalized and those suffering the very real pain of political and economic exploitation" (137).

Die Autorin bleibt gleichwohl nicht bei einer Kritik anderer Entwürfe stehen. Nach einer allgemeinen Bestandsaufnahme des neueren ethischen Diskurses in den USA (Kap. 1) und der Darstellung und Kritik von Hauerwas´ Ansatz (Kap. 2-4) deutet sie im fünften und letzten Kapitel an, in welche Richtung konzeptionelle Überlegungen aus feministisch-ethischer Sicht zum Thema "Gemeinschaft" zu gehen haben. Den Ansatzpunkt wählt sie, ganz im Einklang mit einflußreichen feministischen Entwürfen wie dem von Sharon Welch, Beverly Harrison oder Elisabeth Schüssler Fiorenza, bei der Epistemologie. Wenn klar ist, wie sehr das theologische Denken vom je eigenen sozialen Standort geprägt ist, dann geht es vor allem darum, die Bedingungen der Produktion von Wahrheit so gerecht wie möglich zu gestalten: "...justice is integral to truth" (138). Grundbedingung für die Gestaltung von Gemeinschaft ist dann, daß beim Ringen um die Wahrheit besonders die Gruppen ermutigt und ermächtigt (empowered) werden, denen die volle Teilhabe an den gesellschaftlichen Dialogen und Debatten bisher vorenthalten wurde. Durch solche Neuverteilung von Macht im Prozess der Produktion von Wahrheit werden sich auch die Inhalte grundlegend verändern ­ eine Annahme, die A. mit Beispielen aus ihrer Arbeit als Pfarrerin einer wohlhabenden weißen Gemeinde unterstreicht (z. B. 162). Für die privilegierten Gruppen erwächst daraus die Herausforderung der "Umkehr" (conversion). Die vorrangige Aufgabe christlicher Ethik besteht von daher darin, zu lernen, wie die eigene Macht zum Mittel der Befreiung anderer aus Unterdrückung und zur Selbstbefreiung vom Herrschenwollen befreit werden kann (169).

Die Ausführungen zur Epistemologie und die eingehenden Reflexionen zur Bedeutung des je eigenen sozialen Standortes für die Ethik geben diesem Buch eine Bedeutung, die weit über die Kritik eines prominenten amerikanischen Entwurfs theologischer Ethik hinausgeht. Es gibt vielmehr gleichzeitig einen Einblick in grundlegende Annahmen feministischer Ethik, die in den USA zunehmend prägende Bedeutung gewinnen. Für die Entwicklung einer christlich-ethischen Konzeption von Gemeinschaft besteht das Verdienst dieser Arbeit vor allem darin, daß sie deutlich macht: übersteigerter Individualismus und Vereinzelung können nicht dadurch bekämpft werden, daß Pluralismus zugunsten eines homogenen Gemeinschaftsideals zurückgedreht wird. Gemeinschaft kann, im Gegenteil, gerade dann entstehen, wenn benachteiligte Gruppen gleiche Artikulationsmöglichkeiten eingeräumt bekommen und durch den engagierten Einsatz christlicher Gemeinden die soziale Solidarität gestärkt wird.