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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

965 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Paetzold, Heinz

Titel/Untertitel:

Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. XVIII u. 189 S. 8°. Kart. DM 39,80. ISBN 3-534-12367-0

Rezensent:

Thomas Vogl

Die fruchtbarsten philosophischen Suchbewegungen der letzten beiden Jahrzehnte verdankten sich der Renovierung der ästhetischen und der kulturphilosophischen Fragestellung. Ernst Cassirers ,Philosophie der symbolischen Formen´ bietet sich in besonderer Weise an, beide Themen so miteinander zu verknüpfen, daß auf eine wechselseitige Erhellung der Problemkreise gehofft werden darf. Der Begriff der ,symbolischen Form´ steht dabei für eine philosophische Methode, die zwar den Rationalitätsstandards der klassischen deutschen Philosophie zu genügen trachtet, aber den Begriff des Geistes als Inbegriff menschlichen Kulturschaffens von seiner Verengung auf die ,Vernunft´ befreien möchte.

P. hat neben einer ersten systematisch-philosophischen und einer zweiten biographisch orientierten Einführung in Ernst Cassirers Werk (,Cassirer zur Einführung´ u. ,Ernst Cassirer ­ Von Marburg nach New York´) ein drittes Buch zu demselben Autor vorgelegt, in dem er es sich zur Aufgabe macht, den "Anstoß, der durch Cassirer möglich wurde" (VII) weiterzudenken. Der Vf. führt zunächst in der Einleitung und dem "Prämissen" betitelten ersten Teil seines Buches die Grundzüge seiner eigenen Cassirerinterpretation aus. Daran anschließend werden zentrale Themen der Philosophie Cassirers in die "Kontexte" anderer philosophischer Ansätze gestellt. Die Kontextualisierungen dienen dem Vf. jedoch nicht nur zur wechselseitigen Erhellung von neueren Fragestellungen und Cassirerschem Denken, sie fungieren zudem als gedankliche ,Bausteine´ (vgl. 173), die, in dem dritten Teil des Buches zu "Konklusionen" zusammengesetzt, den Rohbau von P.s eigener philosophischer Architektur erkennbar werden lassen.

Der Vf. strebt dabei erstens eine Grundlegung der philosophischen Ästhetik an. Moderne Kunst legitimiere sich ästhetisch durch ihrekonzeptionelle Arbeit (Apollinaire), da die Politik, der Kunstmarkt und auch der hermeneutische Kunstkontext allein eine "generierende bzw. regulierende Instanz für Kunst" (156) nicht auszubilden vermögen. Dem Konzept der Kunst als Bedingung der Möglichkeit moderner Kunstobjekte korrespondieren auf der anderen Seite die subjektiven Bedingungen der ästhetischen Erfahrung. P. sieht die Verschränkung von leibhafter, sinnlicher Wahrnehmung und Reflexivität des Wahrnehmens ­ Ich sehe wie ich sehe ­ als ihre Grundlage an. Das Phänomen ästhetischer Reflexivität lasse sich wiederum in den vier Momenten der Polyfunktionalität, grenzenlosen Offenheit, Steigerung und Vervollkommnung näher explizieren. Die kulturphilosophische Pointe dieser Unterscheidungen liegt in der Annahme, die Momente ästhetischer Reflexivität ließen sich als aufschließbar für die Wahrnehmungsweisen der mythischen, religiösen, wissenschaftlichen und moralischen Erfahrung darstellen. Dann läge in der ästhetischen Weltauffassung keimhaft nahezu das gesamte Kulturleben beschlossen. Der mythische Zug, wahrgenommene Fakten auf eine Totalität gedeuteter Erfahrung hin zu transzendieren, kehre in der ästhetischen Erfahrung als Totalität der Reflexion wieder. Denn diese beruhigt sich ihrerseits nicht im Wahrgenommenen, sondern strebt in Dauerreflexion auf das eigene Wahrnehmen die mehrdimensionale Totalität der sinnlichen Erfahrung zu durchmessen. Diesem Moment der Selbsterfahrung im ,interesselosen Wohlgefallen´ korrespondiert die potentiell unabschließbare Offenheit für neue Deutungen sinnlicher Eindrücke, die in der wissenschaftlichen Heuristik ihre außerästhetische Entsprechung finden soll. Die ,selige´ Steigerung des Erlebens in der ästhetischen Meditation "kann man relational mit der religiösen Erfahrung zusammenbringen" (166). Die ästhetisch erstrebte Vervollkommnung der Sinneswahrnehmung weise schließlich eine Parallele zur moralischen Erfahrung auf. Der etwas gezwungene Charakter dieser Bezüge mag solange unbewertet bleiben, wie der Vf. die kulturphilosophischen Konsequenzen seiner Ästhetik nicht ausführlicher dargestellt hat. Das Zusammenwirken verschiedener symbolischer Formen (Kunst, Moral, Wissenschaft etc.) zu erhellen darf als die schwierigste Aufgabe einer Philosophie in der Tradition Cassirers gelten. Ob die ästhetische Erfahrung in paradigmatischer Weise hier erklärend hilfreich sein kann, muß offen bleiben. Es könnte aber sein, daß lediglich das semantische Changieren des Terminus ,Ästhetik´ zwischen einer allgemeinen Wahrnehmungstheorie als transzendentaler Lehre von der Anschauung und einer besonderen Theorie der Anschauung in der Sinndimension der Kunst diese Hervorhebung der ästhetischen Erfahrung naheliegend erscheinen läßt.

Der Vf. formuliert zweitens die "Bedingungen einer transzendentalkritischen Kulturphilosophie" (167). Dabei geht er in dreierlei Hinsicht über die Cassirerschen Vorgaben hinaus.

Zunächst sei der Cassirersche Begriff der ,symbolischen Form´ semiotisch zu präzisieren. Mit Peirce und Apel lasse sich der bei Cassirer rudimentär ausgeprägte Zug zu einer Theorie der Intersubjektivität im Sinne einer ,transformierten Transzendentalphilosophie´ deuten, die nach der Verabschiedung eines vorgängigen transzendentalen Subjekts auf die Vorgängigkeit eines unabschließbaren Diskurses abhebt. Die knappen Ausführungen des Vf.s zu dieser Weiterführung der Philosophie Cassirers gehören zu den spannendsten Seiten seines Buches. In der Kürze wird aber nicht recht klar, inwiefern die semiotische Interpretation des Begriffs der ,symbolischen Form´ seiner "logischen Stringenz" (35) zugute kommen könnte.

Der Vf. konfrontiert zudem die Kulturkritik Cassirers in ,Der Mythos des Staates´ mit vergleichbaren Einsichten der ,Dialektik der Aufklärung´ von Horkheimer und Adorno. Eine Ideologiekritik im Sinne Cassirers hätte depravierte, verzerrte symbolische Formen von deren integraler, utopischer Gestalt zu unterscheiden, wobei hier wieder die ästhetische Erfahrung als paradigmatische symbolische Tätigkeit ohne Herrschaftsimplikationen angeführt wird.

Schließlich sei das symbolische Kulturleben mit den Erkenntnissen Gehlens und Plessners als notwendige Folge der anthropologischen Primärorganisation des Menschen darstellbar.

P.s Buch geht über ein rein philologisches Interesse an Cassirer also weit hinaus. Es regt an, ohne freilich die Neugierde durch hinreichend ausführliche Darstellung seiner Thesen zu befriedigen. Man darf gespannt bleiben.