Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

963 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dickson, Gwen Griffith

Titel/Untertitel:

Johann Georg Hamann´s Relational Metacriticism

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. XIX, 534 S. gr. 8o = Theologische Bibliothek Töpelmann, 67. ISBN 3-11-014437-9

Rezensent:

Udo Feist

Kompetent, unprätentiös und versiert ­ D. legt einen reichhaltigen Band vor, der weit mehr ist und bietet als, wie vielleicht der Titel vermuten läßt, eine weitere Gesamtdeutung vom oder Spezialuntersuchung zum Werk von Johann Georg Hamann. Vielmehr wird eine lange empfundene Lücke geschlossen, indem sie Hamann in einer auf lange Sicht hin gültigen Weise der englischsprachigen Welt vorstellt und zugleich "a certain way of looking at the underlying framework and tendencies of his thinking" (vii) plausibel und gut belegt entwickelt. Durch die Verbindung von Übersetzung und erläuternden Anmerkungen (373-534) sowie Kommentierung und Analyse (28-318) einiger seiner wichtigsten Werke schafft sie dafür eine tragfähige und brauchbare Grundlage, die zudem in ihrer Redlichkeit besticht. Einleitung (1-27) und bündelnder Abschluß des Kommentar- und Analyseteils (319-354) wie auch dessen Tendenz sind durchweg und direkt überprüfbar. Der Dialog mit der einschlägigen und neuesten, zumeist deutschsprachig dominierten Literatur zu Hamann (verbunden mit einem vorbildlichen Index, zwischen Analyse und Übersetzungen überschaubar und nutzbringend zusammengestellt; 355-372) tut dafür das Übrige.

Deutlich spürbar und zugleich wohl die Voraussetzung für eine solche Pioniertat, die nicht nur den Weg bahnt, sondern ihn auch ebnet, sind D.s tiefe Sympathie für und ihre überzeugte Inspiration durch Hamann: "The only cause for complaint... in my view, is the complaint of his own admirers: that he might have written more, expounded himself in more detail, or at least unclenched the balled fist" (330). Trotz dieser großen eigenen Beteiligung verliert sie jedoch nirgends den wissenschaftlich kühlen und nachvollziehbaren Blick, was bereits an der treffsicheren Auswahl der ,wichtigen Werke´ ablesbar ist (s. u.). Hinzu kommen ihre angemessenen Stellungnahmen zu derzeit in der Hamannforschung und den unterschiedlichen mit ihr befaßten Diszipinen sowie in aktuellen Publikationen vorherrschenden Tendenzen der Rezeption und Deutung.

Konkret wendet D. sich gegen die Überbetonung einer ,christozentrischen´ Ausdeutung durch Oswald Bayer, dem diese Studie und die Hamannforschung insgesamt viel verdanken, gegen die von Isaiah Berlin vorgenommene Kontextuierung, der Hamann in die ,totalitäre Geschichte´ des deutschen Geistes einordnet, und ,postmoderne´, vor allem linguistische, literaturwissenschaftliche und philosophische Versuche zur Vereinnahmung Hamanns für die eigene Sache. Letztere und deren partikulare Berechtigung weiß sie zwar zu würdigen, doch modifiziert D. diese in angebrachter Weise, indem sie solchen Versuchen die von Hamann selbst vielfach betonte Eigenständigkeit (25-27 u. ö.: "The style might be the man ...") entgegensetzt.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund werden der maßstabsetzende Rang ihrer eigenen Arbeit und deren Modernität greifbar, wenn sie durchgängig darauf insistiert, daß ´Hamann´s relational metacriticism´ Schlüssel, Movens wie auch Erkenntniszentrum seiner (zumeist Gelegenheits-)Schriften sei. Dessen historischen wie auch Hamanns persönlichen Entfaltungsvoraussetzungen, seine theologische Verwurzelung und originäre Entfaltung wie auch deren bleibende Aktualität und Erkenntniskraft arbeitet sie überzeugend und anregend jenseits aller exegetischen Engführung heraus, ohne die philologische Genauigkeit dabei preiszugeben: "The core of the insight, method, or presupposition of Hamann´s relationality is the theological conviction of ´being created´... Our existence, our being, is due to and remains constituted by a relationship; a relationship above all to the divine but which plays itself out in numerous other relationships with ourselves, amongst ourselves and between ourselves and the rest of creation." (354) Selten gelingt es wissenschaftlichen Veröffentlichungen so wie dieser, in bestem Sinne an die Dimensionen von Erbaulichkeit heranzureichen.

Dem Charakter von Hamanns Gelegenheitsschrifttum entsprechend und dessen zunehmender gedanklicher Entfaltung chronologisch folgend setzt D. mit den ,Sokratischen Denkwürdigkeiten´ ein (´Socratic Memorabilia: Hamann´s Methodological Manifesto´; 28-75), die sie mit Hilfe des auch danach verwendeten Schemas ´Introduction ­ Exposition ­ Analysis´ erläutert: Auf einführende Informationen zu Entstehungshintergrund etc. folgt eine strukturierende Textparaphrase, die unter den genannten Großgesichtspunkten auf eingehendere Deutung zuläuft. Dabei werden die besonderen Akzentuierungen der einzelnen Schriften je für sich herausgestellt und gewürdigt. (Der Bezugstext ist in Übersetzung dann jeweils im letzten Teil des Buches heranzuziehen.)

Die gewiß in Hamanns Werk zentrale ´Aesthetica in Nuce´ schließt sich an und bekommt den angemessenen Raum (´The Rhapsody of a Philologian´; 76-149), was auch von den ,Herderschriften´ gilt (´The A and W´; 150-245), die im wesentlichen mit den ,Kreuzzügen des Philologen´ identisch sind. Besonders erfreulich an dieser insgesamt gelungenen und insofern glücklichen Auswahl ist die zentrale Stellung des,Versuchs einer Sibylle über die Ehe´ (´The Mysterious Wisdom of a Sibyll´; 246-270). Denn gerade hierin werden nach all den vorlaufenden sprachphilosophischen, epistemologischen und anthropologischen Grundlegungen und Entfaltungen die Akzente von Hamanns Denken besonders offensichtlich und entwickeln ihre eigentliche theologische Sprengkraft, denn: "Likeness to God is seen in simply being human; it is displayed in nothing more than going about the most basic and fundamental human activities." (266) Spezifisch sind daran Hamanns Ausführungen über die ­ bis heute vielfach theologisch unleidliche ­ Sexualität. D. betont zu Recht: "Where however in HS (= Herderschriften) the ´sharing´ of human and divine was concretized and contextualized in language, now it is explored in the realm of sexuality." (266) Und deutlicher: "one of the audacious claims of this essay will be that the human person precisely in its sexual activity is the image of the Creative Spirit." (250) Das gipfelt in der zutreffenden Zusammenfassung: "alienation from God is seen not in desire but in sexual prudery" (267).

Erst die betonte Fleischlichkeit dieser Akzentuierung vermag den Tiefsinn der gegen Kants Kritiken angeschriebenen ,metakritischen Schriften´ Hamanns in den richtigen Kontext zu rücken. Was sich nämlich dem Umfang nach gegen Kant wie davidische Zwergigkeit ausnimmt, versammelt prägnant die Summe eines gelebten Denkens bzw. die Quintessenz von Hamanns ,Autorschaft´. D. titelt insofern zu Recht, wenn sie über das letzte Analyse-Kapitel setzt: ´Metacritique of the Purism of Reason: The Key to the Abyss´ (271-318). Den unversehens bereiteten Sockel läßt sie Hamann solcherart elegant besteigen.

Die bündelnde und abschließende Würdigung (´Metacritus Bonae Spei´; 319-354) beginnt stilvoll mit einer kritischen Kommentierung von Goethes und Hegels Hamannrezeption. Und dem Hauptabschnitt dieses Kapitels (´Hamann´s Relational Metacriticism´; 331-353) vertraut sie zu guter Letzt Hamanns ganze Wucht in examenshandhabbaren Begriffen an: ´Language, Interpretation, Knowledge, Humanity, Unity and Difference´. Das Buch und die Leser profitieren nicht zuletzt davon, daß Hamann hier in Übersetzung zugänglich gemacht wird, denn statt einer Entfremdung stellen sich neue Möglichkeiten der Annäherung und Vertrautheit ein. Dem Format des Sprach- und Übersetzungsdenkers Hamann vermag D. so auf gelungene Weise zu entsprechen.