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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1393–1396

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wermke, Michael, Adam, Gottfried, u. Martin Rothgangel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium. M. 7 Grafiken u. 5 Tabellen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 488 S. 8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 3-525-61015-7.

Rezensent:

Christhard Lück

Seit den umfangreichen Reformen der gymnasialen Oberstufe in den 1960er und 70er Jahren hat der Religionsunterricht in der Se­kundarstufe II sukzessive ein eigenes Profil ausgebildet. Manifestationen dieses religionsdidaktischen Profils waren bisher vor allem in Curricula, Kursbüchern und Unterrichtsmodellen zu finden. Theoretische Entwürfe einer oberstufenspezifischen Religionsdidaktik z. B. in Gestalt einer monographischen Abhandlung oder eines Lehrbuches suchte man hingegen weithin vergebens. Das von M. Wermke, G. Adam und M. Rothgangel herausgegebene Kompendium füllt diese Lücke.
Es möchte auf fast 500 Seiten allen in der Religionslehrerausbildung Tätigen eine multiperspektivische »Zusammenfassung der Didaktik des Religionsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe an die Hand« (9) geben. Zugleich soll ein konstruktiver Beitrag zu einer besseren Verflechtung der unterschiedlichen Phasen der gym­nasialen Religionslehrerausbildung geleistet werden. An der Er­arbeitung des Grundlagenwerks waren daher Autorinnen und Autoren aus der universitären Ausbildung, den Studienseminaren, Lehrerfortbildungsinstituten und Schulen beteiligt. Sein An­spruch ist alles andere als gering: Neben einer grundlegenden, theorie- und praxisfundierten Orientierung sollen »Perspektiven der künftigen Entwicklung des Religionsunterrichts in der Sekundarstufe II im fachdidaktischen wie bildungspolitischen Kontext« (10) aufgezeigt werden.
Das Kompendium ist in fünf große Themenblöcke gegliedert. Auf eine präzise Analyse der Strukturen und der Stellung des Oberstufenreligionsunterrichts (11–94) werden die am Fach maßgeblich beteiligten Personen (95–166) ausführlich betrachtet – ein Hinweis auf die hohe Bedeutung, die den Subjekten in religiösen Bildungsprozessen den Herausgebern zufolge zukommt. Didaktische Perspektiven stehen im Mittelpunkt des dritten, umfangreichsten Themenblocks (167–298): Nach einer auch historisch geschärften Erörterung von konzeptionellen und strukturellen Grundfragen werden die »großen Themen« des Oberstufenreligionsunterrichts in den Blick genommen. Methodische Erwägungen (299–410) sowie Skizzen zur Planung, Durchführung und Beurteilung von Religionsunterricht in der Sekundarstufe II (411–472) schließen sich an.
Der programmatische Eingangsbeitrag von M. Wermke und M. Rothgangel (13–40) hat eine Leuchtturmfunktion für alle weiteren Artikel. Er profiliert Wissenschaftspropädeutik und Lebensweltorientierung als didaktische Leitkategorien eines theoriegeleiteten, existenziell bedeutsamen Unterrichts in der Sekundarstufe II. Jenseits der Scylla eines wissenschaftspropädeutisch enggeführten und der Charybdis eines einseitig lebensweltlich orientierten Religionsunterrichts setzen sich die Autoren auf der Basis einer dialogisch-dialektischen Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Lebenswelt für eine gleichzeitige Beachtung beider Prinzipien ein. Ein recht verstandener wissenschaftsorientierter Religionsunterricht habe demnach »stets die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt und Ziel seiner didaktischen Bemühungen in den Blick zu nehmen« (14). Angesichts dessen wird die grundlegende Bedeutung einer methodisch geschulten Wahrnehmungskompetenz der individuellen Religiosität von Schülern und Schülerinnen unterstrichen. Erst wenn diese (angehenden) Religionslehrern und -lehrerinnen nachhaltig vermittelt werde, lasse sich ein subjekt- und lebensweltorientierter Religionsunterricht im Vollsinn schüler- und sachadäquat realisieren.
Der nachfolgende Artikel von M. Rothgangel und P. Biehl (41–56) ist in enger Korrespondenz zu einem weiteren Aufsatz der Autoren zu »Konzeptionen und Strukturen« der Religionsdidaktik zu lesen (183–218). Entfaltet der erste Beitrag religionspädagogische Grundlagenfragen (u. a. Begriffsdefinitionen, Bezugswissenschaften, Verhältnismodelle der ›Religions-Pädagogik‹) in wissenschaftstheoretischer Sicht, wird im zweiten ausgehend von religionspädago­gischen Konzeptionen deren jeweils verpflichtendes Erbe in der Gestalt von »didaktischen Strukturen« destilliert und näher analysiert. Die Herausbildung komplementär aufeinander bezogener didaktischer Strukturen konvergiert mit der Einsicht, dass »heute keine Konzeption alleine das gesamte Aufgabenfeld der Religions­didaktik abdecken kann« (216). Vor allem vier Strukturen sehen die Göttinger Religionspädagogen für einen Religionsunterricht der Zukunft als fundamental an: die hermeneutische, problemorientierte, symboldidaktische und subjektorientierte Struktur.
Eher zurückhaltend fällt das Urteil über eine sog. performative Religionspädagogik aus, der auf Grund ihrer Fokussierung auf die Methodik »erhebliche Probleme« im theologischen wie allgemeindidaktischen Diskurs attestiert werden. Gleichwohl wird in diesem Ansatz ein »wichtiges Komplementärprogramm zu einer subjekt- und lebensweltorientierten Religionspädagogik« (213) gesehen. Es überrascht daher nicht, dass andere Autoren zu einer deutlich positiveren Einschätzung des performativen Ansatzes gelangen (vgl. z .B. Dressler, 108 ff.; Schilling, 305 ff.).
In einem weiteren Beitrag (57–79) stellt E. Marggraf die Ge­schichte der gymnasialen Schulentwicklung von 1810 bis zur Vereinbarung der Kultusministerkonferenz von 1972 komprimiert dar, deren Bestimmungen für die derzeitige Stellung des Faches Religion in der Oberstufe kaum zu überschätzen sind. Es folgen eine sachkundige Interpretation von Stellungnahmen der EKD zum (gymnasialen) Religionsunterricht von 1970 bis 2004 sowie eine kritische Erörterung internationaler Vergleichsstudien in ih­rer Relevanz für die schulpolitische Diskussion. Der hier am Rande erwähnte Begriff »Bildungsstandards« steht dann im Mittelpunkt des Beitrags von B. Schröder (80–93). Dieser gibt einen knappen Überblick über die Geschichte der Debatte um Bildungsstandards in Deutschland. Bereits ausformulierte Entwürfe von Bil­dungs­standards für den Religionsunterricht werden näher be­trachtet und den Kriterien des sog. Klieme-Gutachtens zugeordnet. Da dieser aktuelle schulpädagogische Impuls im religionsdidaktischen Bereich nicht unumstritten ist, führt Schröder Pro- und Contra-Argumente prägnant vor Augen. Zusammenfassend kommt er zu dem Ergebnis, dass nicht »alle Ziele des Religionsunterrichts ... in Form von Standards beschrieben werden« können. Deshalb gelte es einen »klaren Sinn dafür zu bewahren, dass es prinzipielle Grenzen einer Standardisierung dieses Faches gibt« (92). Berück­sichtigt man diese Einschränkungen, seien Standards aber als Ge­winn für den Religionsunterricht – gerade im Hinblick auf eine Vergewisserung über seine Inhalte, Ziele und Grenzen – anzusehen.
Dass neben dem Rekurs auf aktuelle Diskussionen und Herausforderungen auch Kenntnisse der historischen Entwicklung einer gymnasialen Religionsdidaktik für deren gegenwärtige Profilierung eminent wichtig sind, verdeutlicht der Beitrag von C. Grethlein (169–182). Die von ihm vorgenommene Rekonstruktion ge­schichtlicher Spuren zeigt u. a. auf, dass eine funktionale Integration von Religionsunterricht in eine Fächergruppe mit erheblichen Problemen verbunden sein kann. Trotz rechtlicher Absicherung bedürfe dieser zudem gerade heute einer schultheoretischen, gymnasialpädagogischen sowie theologisch verantworteten Be­grün­dung, bei der die für schulischen Religionsunterricht charakteris­tische »Spannung zwischen kognitiven Lernprozessen und persönlichkeitsfördernden Angeboten nicht einseitig« (181) aufgelöst werden sollte.
Dass Lehrkräfte im Stande sein müssen, die bildungstheoretischen Gründe für einen kirchlich mitverantworteten Religionsunterricht darzulegen, betont auch der Artikel von B. Dressler (97–118). Er konstatiert, dass die in der Literatur immer wieder vorausgesetzten Rollenkonflikte von Religionslehrenden selbst kaum wahrgenommen werden. Auch die von religionspädagogischen Konzepten propagierten Religionslehrertypologien führen angesichts ihrer Klischeehaftigkeit und geringen empirischen Validität nicht weiter. Neuere qualitativ akzentuierte Studien machen hingegen auf die Variabilität unterschiedlicher Unterrichtsstile bzw. -profile aufmerksam, die ihren Kulminationspunkt in der Frage nach dem (Spannungs-)Verhältnis von gelebter und gelehrter Religion besitzen. Angesichts des weitgehenden Wegfalls christlich-religiöser Sozialisate zeichne sich die Professionalität von Religionslehrenden heute gerade darin aus, Religion zeigen zu können (Option für einen deiktisch-inszenierenden Unterricht).
Die religionssoziologischen und entwicklungspsychologischen Beiträge des Kompendiums fokussieren sich auf Jugendliche im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. U. Baumann (119–145) erhelltdiese »Lebensphase im postmodernen Kontext« durch detaillierte Beschreibungen und Interpretationen der Lebensstile, Wertmus­ter, politischen Präferenzen, Gender- und Beziehungsfragen sowie des Globalisierungsbewusstseins Heranwachsender. Positiv ist, dass dabei die Oberstufenschüler und -schülerinnen auch selbst zu Wort kommen. Nach begrifflich-definitorischen Vorklärungen trägt B. Schröder 13 Thesen zur Religiosität Jugendlicher vor (146–166). Diese illustrieren, dass Jugendliche in (West-)Deutschland in ihrer Religionszugehörigkeit und religiösen Sozialisation nach wie vor christlich geprägt sind. Zugleich ist eine flottierende, syn­kretis­tische Religiosität, die sich nur noch selten christlich-theologischer Traditionen und Denkfiguren bedient, bei ihnen nicht zu übersehen.
Im zehnten Kapitel (219–298) werden die zentralen Themen des Religionsunterrichts in der Oberstufe (Bibel verstehen lernen, An­näherungen an Jesus Christus, Die Frage nach Gott, Menschen­bilder, Theologie und Naturwissenschaft, Kirchengeschichte und Lebenswelt, Ethische Themen und christliche Ethik, Eschatologie, Weltreligionen) fachkundig erörtert. Dabei erweist es sich als Vorteil, dass in der Regel Autorinnen und Autoren, die sich schon länger mit diesen Themen auseinandersetzen, die Artikel geschrieben haben (M. und R. Zimmermann, G. Orth, H. Rupp, G. Adam, M. Rothgangel, A. Geck, K. F. Haag, J. Kubik, J. Lähnemann).
Im vierten Themenkomplex setzt sich J. Schilling in einem fachdidaktische Reflexionen integrierenden Grundsatzartikel (301–327) mit Methoden wissenschaftspropädeutischen Arbeitens auseinander. Hieran anknüpfend kann B. Husmann die Bedeutung kreativer Handlungsmuster für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II prononciert herausarbeiten (383–397). Der letzte, von M. Zimmermann verfasste Themenblock (411–472) enthält vielfältige Anregungen zur konkreten Unterrichtsplanung und -evaluation und zur Leistungsbeurteilung im Religionsunterricht. Er weiß gerade auf Grund seiner großen Praxisnähe zu beeindrucken.
Das Kompendium hat das Potential, ein religionsdidaktisches Standardwerk zu werden. Es überzeugt durch solide Informationen, fundierte Praxisanregungen und nachdenkenswerte konzeptionell-inhaltliche Perspektiven. Das Buch kann daher Studierenden, (angehenden) Religionslehrkräften und in der Ausbildung Tätigen uneingeschränkt empfohlen werden. Gleichwohl wird im Kompendium zu Recht konstatiert, dass »die Aufgabe, eine Religionsdidaktik der gymnasialen Oberstufe zu erarbeiten, ... noch vor uns« (180) liegt. Für eine solche Erarbeitung bietet das Grundlagen- und Nachschlagewerk beachtliche Vorarbeiten, auch wenn mancher neuere religionsdidaktische Impuls (Jugendtheologie, konstruktivistische Religionsdidaktik, das Konzept eines »zum Christsein befähigenden Religionsunterrichts«) nur am Rande im Blick ist.