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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1389–1391

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Jörg

Titel/Untertitel:

Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 400 S. gr.8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 51. Kart. EUR 69,90. ISBN 978-3-525-62397-8.

Rezensent:

Christian Grethlein

Der Autor gab bereits in seiner von Wilhelm Gräb betreuten, viel beachteten Dissertation (Sinnmaschine Kino, Gütersloh 2001; Besprechung in ThLZ 128 [2003], 954 f.) dem praktisch-theolo­gischen Diskurs zu den Medien einen wichtigen Impuls. Konzentrierte sich H. damals noch auf eine Inhaltsanalyse aktueller Kinofilme, so widmet er sich jetzt in seiner Berliner Habilitationsschrift der Rezeption von Medien, konkret von Büchern, Kinofilmen und Fernsehen, und betritt damit weitgehendes Neuland. Forschungsstrategisch will er die vor allem von seinem Lehrer Gräb kulturhermeneutisch entwickelte These von der Medienreligion »mit den Mitteln der empirischen Religions- und Medienforschung – performativitätsorientiert – … konkretisieren, … überprüfen und weiter[...]entwickeln« (22). Dazu holt er theoretisch weit aus.
In einem ersten Durchgang skizziert H. seine »Theoretische[n] Voraussetzungen« (17–155). Er folgt dabei dem von Gräb erarbeiteten kulturtheoretischen Rahmen. Ausführlich wird »Religionskultur« entfaltet. Dazu rekonstruiert H. – nach einer kurzen Skizze des »religionskulturellen Wandels« – vor allem den Religionsbegriff. Klar votiert er positionell für ein möglichst weites, funktionales Religionsverständnis, wie es Thomas Luckmann mit seiner These von der »invisible religion« präsentierte (54 u. ö.). Es folgt in ähnlicher Weise, also unter kurzem Referat verschiedener diesbezüglicher Positionen, die Entfaltung des Begriffs »Medienkultur«. Nach eher zirkulären Einführungen in die Medienthematik mündet dieser Abschnitt in eine kleine Medienkunde, und zwar der drei Medien, die näher empirisch untersucht werden sollen: Buch, Kinofilm und Fernsehen.
Den Hauptteil des Bandes bilden »Empirische Analysen« (157–323). Deren Forschungsfrage wird klar formuliert: »In medien- und religionsbiographischen Interviews soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss Bücher, Kinofilme und Fernsehsendungen auf die religiösen und weltanschaulichen Orientierungen der Befragten hatten und haben.« (158) Allerdings weist dabei bereits die vor dem Hintergrund des extrem weiten, radikal funktionalen Religionsbegriffs tautologische Rede von »religiösen und weltanschaulichen« Orientierungen auf eine gewisse begriffliche Schwäche hin. Sachgemäß kann H. vor dem Hintergrund der einschlägigen methodologischen Diskussion (vor allem um die Grounded Theory) sein Vorgehen anhand von Leitfaden-Interviews plausibel machen. Dies gelingt jedoch nur teilweise für die Auswahl der Probanden und die Darstellung der in den Interviews gewonnenen Einsichten.
Vor allem die altersmäßige Konzentration auf die Geburtsjahrgänge 1968 bis 1978 leuchtet ein, insofern hier eine Kohorte mit ähnlichen Medienerfahrungen vorliegt. Dann beginnen aber die Probleme: Von 20 im Jahr 2003 geführten Interviews werden vier als »deutlich uninteressanter« (168) ausgeschieden; von den verbleibenden 16 werden – wiederum ohne einleuchtende Gründe – sieben in »Einzelfallanalysen« ausführlicher vorgestellt, die anderen lediglich punktuell bei der Gesamtauswertung herangezogen. Bei den sieben ausführlich Präsentierten zeigen sich erhebliche Probleme, die wohl letztlich mit der Einseitigkeit des religionshermeneutischen Ansatzes Gräbs zusammenhängen. Unter den sieben findet sich kein einziger Katholik (geschweige denn Muslim) – gerade hinsichtlich der traditionell anderen Bedeutung des Performativen in dieser Konfession ist diese Ausblendung bedauerlich; fünf sind aktuell Mitglieder der evangelischen Kirche, zwei aus ihr ausgetreten. Sechs der Probanden sind Männer. Ein Befragter studiert noch; fünf verfügen über einen kultur- bzw. geisteswissenschaftlichen Hochschulabschluss, lediglich einer hat Realschulabschluss, ist aber nach der Einschätzung H.s von erstaunlicher »Artikulationsfähigkeit« (176). Dazu gehören drei der ausführlich Präsentierten dem »Freundes- und Bekanntenkreis« H.s an, einer ist eine flüchtige Bekanntschaft, einer der Bruder eines Freundes, zwei weitere kamen über Kollegenkontakte in die Gruppe. H. weiß durchaus um die daraus resultierenden Probleme, ohne aber erkennbar Konsequenzen daraus zu ziehen.
Von daher verwundert es nicht, dass das empirische Material vorzüglich die im ersten Teil entwickelte Theorie bestätigt. Gewiss, empirische Forschung ist immer vom theoretischen Konzept ab­hängig, innerhalb dessen gearbeitet wird. Doch wenn dann auch noch die Lebenswelt des Forschers und die seiner Probanden in hohem Maß übereinstimmen, fragt sich, wo der widerständige Charakter des Empirischen gegen die Theorie- und Begriffsbildung bleibt, um dessentwillen ja empirische Forschung praktisch-theologisch unerlässlich ist.
Der dritte, erheblich kürzere Teil (325–374) nennt »Praktisch-theologische Konsequenzen«. Hier wird zuerst noch einmal das Religionsthema aufgenommen. Dabei ist der Ausgangspunkt »die Beobachtung, dass 16 junge Erwachsene im Jahr 2003 und mit einer für die Bevölkerungsmehrheit heute typischen distanzierten Kirchenbindung ihre Sinnfragen in hohem Maße in der Auseinandersetzung mit der modernen Medienkultur bearbeiten. Die Sinnperspektiven des traditionellen Christentums sind demgegenüber von marginaler Bedeutung« (325). Durch den Bezug auf die ästhetische Seite der Medien erweitert H. vorsichtig den primär auf die Dimension der Deutung abhebenden Religionsbegriff bei Gräb, indem er eine Einbeziehung der ästhetischen Dimension fordert. Die Bemühungen, ästhetische und religiöse Erfahrung zu differenzieren, zeigen allerdings eher die Aporien auf, in die ein so weites Religionsverständnis führt, als dass si e zu einer für empirische Forschung tragfähigen und damit auch trennscharfen Distinktion führen. Dementsprechend erscheint auch das »kirchliche Christentum« in hohem Maß auf den Anschluss an die »Medienreligion« angewiesen. Konkret werden praktische Möglichkeiten hierzu für die Handlungsfelder Predigt (einschließlich Gottesdienst), Religionsunterricht und Seelsorge dargestellt.
So liegt insgesamt eine Studie vor, die von einem positionell klaren Ausgangspunkt ein Forschungsdesiderat bearbeitet, nämlich die Bedeutung von Medien für die Arbeit an Sinnfragen. Die übersichtlich referierten Positionen zu jeweils zu beachtenden Themenbereichen aus Religions- und Kulturtheorie bieten eine gute Orientierung. Demgegenüber ist – wie kurz erwähnt – der empirische Mittelteil weniger durchsichtig und überzeugend. Die Konzentration auf eine alters-, bildungs- und konfessionsmäßig recht homogene kleine Gruppe von Menschen ermöglicht, wie H. gelegentlich selbst kurz andeutet, nur sehr beschränkte Auskunft.
Grundsätzlich fällt bei der Studie das weitgehende Ausblenden historischer Tiefenschärfe auf. Die zunehmende Marginalisierung der kirchlichen Religionskultur wird behauptet – und setzt eine aus konservativen Kreisen gewohnte Abfalltheorie voraus. Ich vermute, dass sie einer genaueren historischen Rückfrage nicht standhält (vgl. z. B. die Visitationsprotokolle aus der Reformationszeit). Schließlich sei ein gewisses Erstaunen über die Zuordnung der Studie zu der Reihe »Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie« geäußert. Zweifellos liegt hier eine wichtige praktisch-theologische Studie vor; die drei Gebiete der Reihe werden aber nur gestreift.