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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1388 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hanusa, Barbara

Titel/Untertitel:

Die religiöse Dimension der Reformpädagogik Paul Geheebs. Die Frage nach der Religion in der Re­formpädagogik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. X, 274 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 31. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02430-8.

Rezensent:

Ralf Koerrenz

Nach Jahrzehnten eines kultivierten Desinteresses und relativer Sprachlosigkeit ist die Verständigung zwischen Erziehungswissenschaft und Theologie in den letzten 15 Jahren neu in Gang gekommen. Einen Schwerpunkt bildet die sog. »Reformpädagogik« zu Beginn des 20. Jh.s, weil in dieser ein (oft religiös gefärbtes) Utopiepotential mit einer grundlegenden Umorientierung der pädagogischen Anthropologie und Didaktik verflochten wurde. In diesen Kontext ist die praktisch-theologische Dissertation (2005 Göttingen) von Barbara Hanusa einzuordnen, die sich mit Paul Geheeb einer der Gründungsfiguren der Landerziehungsheim-Bewegung widmet.
Bei den Landerziehungsheimen (LEH) – nicht zu verwechseln mit Schullandheimen! – handelt es sich um eines der erfolgreichsten Netzwerke von alternativen Schulen in freier Trägerschaft. Das Entstehen von verschiedenen Strängen innerhalb der LEH-Bewegung (verbunden z. B. mit den Namen H. Lietz, G. Wyneken, K. Hahn und B. Hell) verdankt sich der Rivalität zwischen den Schulgründern, die vor allem auch in unterschiedlichen religiösen Leitvorstellungen manifest wurde. Insofern ist es naheliegend, wenn sich H. genau diesen, für Paul Geheeb bislang nicht aufgearbeiteten Grundlagen zuwendet. Sie geht dabei von der Hypothese aus, »dass Geheeb pädagogisch und zugleich immer auch religiös gewirkt hat, dass seine Reformpädagogik ohne die Analyse seiner religiösen Voraussetzungen und Denkstrukturen nicht verstanden werden kann« (1).
Dies ist methodisch und systematisch ein an­spruchsvolles Unterfangen, insofern Geheeb – im Unterschied beispielsweise zu Lietz oder Wyneken – wenig publizistisch in Erscheinung getreten ist. Grundlage der Arbeit sind entsprechend auch umfängliche Studien im Archiv der Ècole d’Humanité, der, je nach Lesart, zweiten bzw. dritten Schulgründung von Geheeb.
Die Erarbeitung des theologischen Profils erfolgt in drei großen Abschnitten. Im Kapitel »Paul Geheeb – Stationen seines Lebens« rekonstruiert H. die pädagogisch-religiöse Biographie des als Pfarramtskandidat angetretenen und als Lehrer bzw. Schulgründer endenden Geheeb. Die Berufsbiographie in Schulen führt ihn von der Mitwirkung in den Lietz-Heimen (28 ff.), über die 1906 mit anderen vollzogene Gründung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf/Thüringen (vgl. 31 ff.) hin zur ersten ganz eigenen und vor allem durch das Prinzip der Koedukation profilierten Gründung der Odenwaldschule/Hessen (34 ff.). Es waren nach 1933 vor allem Aspekte der Religionsfreiheit (41 f.), die Geheeb zur Schließung seiner Schule, zur Emigration und Gründung der Ècole d’Humanité in der Schweiz (43 ff.) führten.
Der »Theologe Geheeb« wird im 2. Kapitel zunächst anhand des Briefwechsels Geheebs mit Minna Cauer (52) rekonstruiert. Es folgen Interpretationen einiger Dokumente aus der Studienzeit (62 ff.) sowie von drei Predigten (79 ff.), die als Quellen auch im Anhang dokumentiert sind (258 ff.). Der dritte große Abschnitt ist dem »Pädagoge(n) Geheeb« (123 ff.) gewidmet, wobei die Trennschärfe zwischen Theologe und Pädagoge dem Leser eher verborgen bleibt. Die Pädagogik jedenfalls wird entfaltet in einigen Grundzügen (Kindzentriertheit; Entwicklung als Leitvorstellung; Motiv der Pädagogischen Provinz) sowie im Vergleich mit Konzeptionen von Weggefährten Geheebs (Wagenschein, Buber, Key, Tagore). Das Kapitel mündet in eine Darstellung von Geheeb als »Prophet des Lebens« (217 ff.) im Kontext der Lebensreform-Bewegung zu Beginn des 20. Jh.s.
Bezeichnend für die Arbeit ist der Epilog, der letztlich kaum anders gelesen werden kann als eine hymnische Hagiographie von Geheeb als Person und der Ècole d’Humanité als Institution (zur biographischen Verflechtung H.s in die heutige Praxis der Schule vgl. 48 ff.). Interpretationsmuster wie die, dass Geheeb in der »pries­terlichen Funktion« für die Schulgemeinschaft und als »gottgleicher Übervater« angemessen zu erfassen sei (233), sowie die der Schule selbst als »Pilgerstätte«, welche das »Kennzeichen eines Heiligtums« trage (238), werfen mehr Fragen auf als beantwortet werden. In systematischer Hinsicht stellt sich so z. B. die Frage, was es denn nun bedeutet, die »reformpädagogische(n) Praxisformen in Landerziehungsheimen auf ihre religiöse Qualität hin« (7) analysieren zu wollen. Ist der Verweis auf die Intention und das Charisma Geheebs, das auch die Art des Zusammenlebens in der Schule mitbestimmt hat, wirklich schon befriedigend? Oder wäre mit Blick z. B. auf die theologisch-anthropologischen Dimensionen der erzieherischen Relevanz von Koedukation nicht ein Rückgriff auf den Zusammenhang von »Evangelium und Schule« (hier u. a. Untersuchungen zu Hell, Lietz und Petersen) mit strukturell-religionspädagogischen Ansätzen hilfreich gewesen? Daran anschließend ist zu fragen, warum H. grundlegende neuere Literatur einfach unberücksichtigt lässt. Bei der Literatur zur Reformpädagogik (z. B. Benner/Kemper, Reformpädagogik, Bd. 2, 2003, bes. 9–66.110–135) mag dies vielleicht noch angehen, doch die explizit sich mit Religion und Landerziehungsheimen auseinandersetzende Arbeit von Frank Wild (Askese und asketische Erziehung als pädago­gisches Problem, 1997, bes. 1–58.171–200) hätte auf jeden Fall mit Gewinn hinzugezogen werden können. So bleibt am Ende, dass sich der Dialog zwischen Erziehungswissenschaft und Theologie gerade im Spiegel dieser Arbeit weiter als entwicklungsoffen er­weist.