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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

961 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Grauvogel, Gerd Wilhelm

Titel/Untertitel:

Theodor von Wächter. Christ und Sozialdemokrat. Ein soziales Gewissen in kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikten

Verlag:

Stuttgart: Steiner 1994. 351 S., 1 Taf. gr. 8o. Kart. DM 88,­. ISBN 3-515-06565-2

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Der Blick auf Außenseiter ist für den Historiker häufig von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da sich in deren Schicksal oft Problemkonstellationen bündeln, die erst später in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit dringen. Auch wenn es sich dabei oberfächlich betrachtet zumeist um "gescheiterte Existenz(en)" (11) handelt, haben diese vielfach wichtige Themenstellung und auch Einsichten vorweggenommen, für die sie einen hohen Preis zu bezahlen hatten.

Zu solchen Außenseitern zählte sicherlich auch Theodor von Wächter, der 1891 als erster evangelischer Theologe ­ im Status des Predigeramtskandidaten ­ in die SPD eingetreten war. Als er 1893 als sozialdemokratischer Reichstagskandidat in Württemberg mit seinen sozial-christlichen Überzeugungen in der Öffentlichkeit auftrat und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit weckte, strich ihn nach mehreren Protesten kirchlich-konservativer Kreise seine württembergische Landeskirche von der Liste der Pfarramtskandidaten. In den Jahren seiner öffentlichen Wirksamkeit von 1893 bis 1896 warf sein "Fall" die Fragen auf: "Kann ein Christ Sozialdemokrat sein? Kann ein Sozialdemokrat Christ sein?", die bis in die fünfziger und sechziger Jahre dieses Jh.s hinein intensiv und leidenschaftlich erörtert worden sind.

Eine bürgerliche Normalbiographie wurde von Wächter schließlich auch aufgrund seiner homophilen Neigungen erschwert, die er mit Ausnahme der Zeit seines Italien-Aufenthaltes von 1897-1915 zeitlebens zu unterdrücken versuchte. Auch in dieser Hinsicht war er sowohl in der Kirche wie auch in der Sozialdemokratie seiner Zeit ein krasser Außenseiter.

Den weitaus größten Raum der vorliegenden Biographie ­ einer Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Saarbrücken ­ nehmen die Auseinandersetzungen um den "Fall Wächter" in den Jahren 1893 bis 1896 ein (58-228). Zunächst stellt der Vf. den biographischen Werdegang v. Wächters sowie seine insbesondere von der Ritschl-Schule und den Auseinandersetzungen des "Apostolikumsstreits" um seinen älteren Studienfreund Christoph Schrempf bestimmte liberale theologische Haltung vor.

Sehr früh kam der ursprünglich pietistisch geprägte v. Wächter mit verschiedenen kirchlichen Lehrtraditionen ­ der Jungfrauengeburt und der leiblichen Auferstehung Jesu ­ in Konflikt, so daß er nach dem ersten theologischen Examen um eine Beurlaubung für weitere theologische Studiensemester bat. In dieser Zeit lernte er die elenden Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiter um Nürnberg kennen. Diese Sensibilisierung für die soziale Frage führte ihn sehr bald zu einer ethisch begründeten Option für die Sozialdemokratie. Öffentlich bekannt und intensiv erörtert wurde dieser Schritt im Gefolge seiner beiden Reichstagskandidaturen für die SPD 1893 und 1895, bei denen von Wächter zwar jeweils ein achtbares Ergebnis, aber kein Mandat erringen konnte.

Sowohl innerhalb der Kirche wie innerhalb der Sozialdemokratie blieb Wächter mit seinem Engagement ein Außenseiter. Innerkirchlich wurde sein Schritt von der mehrheitlich konservativen, aber auch von der liberalen Pfarrerschaft scharf abgelehnt. Nur vereinzelte Stimmen urteilten zurückhaltender, die Zahl derer, die ihm Sympathien entgegenbrachte ­ vor allem ist hier an Friedrich Naumann und Moritz von Egidy zu erinnern (vgl. 215 ff.) ­, war sehr gering. Aber auch diese ihm Nahestehenden äußerten nicht unerhebliche Bedenken.

Ebenso gab es in der Sozialdemokratie entschiedene Vorbehalte. Während die Parteiführung aus wahltaktischen Gründen eine neutrale Stellung einnahm, stieß v. Wächter bei den das alltägliche Parteileben bestimmenden religionskritischen bis -feindlichen Kreisen auf blanke Ablehnung und hatte mehrere harte Kontroversen durchzustehen.

Ungeachtet dieser Außenseiterstellung in beiden Lagern geht jedoch aus den relativ erfolgreichen Kandidaturen v. Wächters "unzweifelhaft hervor... daß auch ein religionsfreundlicher, christlicher Flügel in der SPD" (109) jener Zeit existierte. Sein Publikationsorgan "Sonntagsblatt für freien Geistesaustausch" mit zwischenzeitlich rund 7000 Abonennten und die Gründung einer "Sozialchristlichen Vereinigung" waren die ersten nach außen sichtbaren Signale dieser Strömung.

Den seinerzeit weithin selbstverständlichen Widerspruch zwischen Christentum und Sozialdemokratie versuchte v. Wächter dahingehend aufzulösen, daß er "eine klare, reinliche Scheidung zwischen der religiösen und politischen Strömung" (156) als Konsequenz einer an Kant geschulten ",kritischenŒ Weltanschauung" (ebd.) postulierte. Ausgehend von einer wesensmäßigen Anlage des Menschen zur Religion konnte er eine unmittelbare, nach wie vor pietistisch geprägte Frömmigkeit mit der materialistischen Geschichtsauffassung des Marxismus verbinden, die von v. Wächter als Wegweiser zur "Befreiung des Menschen aus politischer Knechtschaft, geistiger Abhängigkeit und wirtschaftlicher Ausbeutung" (270) rezipiert worden ist.

Die vorliegenden Arbeit schließt eine Forschungslücke, indem sie dem bisher nur wenig beachteten "Vorläufer und Wegbereiter des Religiösen Sozialismus" (ebd.), Theodor v. Wächter, eine detaillierte Studie widmet. Die Auseinandersetzungen um den "Fall Wächter" werden anhand eines reichen Quellenmaterials sehr genau rekonstruiert und kenntnisreich in die Diskussionszusammenhänge der Zeit eingeordnet. Kritisch anzumerken bleibt jedoch, daß der Vf. nur schwer eine Distanz zu seinen Forschungsgegenstand gewinnt. Er stilisiert v. Wächter zur "freien sittlichen Persönlichkeit" (271), zum Menschen des "sozialen Gewissens" (12), dessen Wirken "ein authentisches Zeugnis gegen jegliche Zwangskultur ­ sei sie christlicher oder atheistischer Herkunft" (270) ­ ist. Diesbezüglich wäre ein differenzierteres, die durchaus auch problematischen Züge bei v. Wächter deutlicher benennendes Urteil wünschenswert gewesen.