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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1376–1378

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Goerlich, Stephan

Titel/Untertitel:

Sehnsucht nach der Wahrheit. Ein Versuch, Simone Weil zu verstehen. Hrsg. u. eingeleitet v. K.-H. Menke.

Verlag:

Würzburg: Echter 2006. 237 S. m. Tab. gr.8° = Bonner Dogmatische Studien, 41. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-429-02814-5.

Rezensent:

Erika Schweizer

Die Studie beginnt mit dem hinführenden und erwärmenden Vorwort eines Freundes, datiert auf den ersten Todestag von Stephan Goerlich. Er konnte seine Dissertation nicht mehr zu Ende bringen. Im Alter von 38 Jahren starb er an seinem schweren Krebsleiden. Was er hinterließ und was nun durch die Herausgabe und Einleitung seines Doktorvaters Karl-Heinz Menke vorliegt, ist eine reichhaltige, gründliche Untersuchung, die dem religiösen Weg und den Gedanken Simone Weils nachgeht, sie koordiniert, auswertet und sprachlich so präzis wie einfühlsam aufschließt, um ihre theologische Bedeutung herauszustellen. Auf diese Weise wird die Lektüre zu einem Werkstattgespräch, das tiefgehende und zu­gleich systematisch geordnete Einsichten in Simone Weils geistliche Überzeugungen vermittelt. Dass überdies weitere, frühere Ar­beiten von G. mit aufgenommen wurden, ist eine besondere Zugabe und lässt das Buch als Werk eines Menschen verstehen, der in seiner inneren Bewegung und Berufung in nahbarer Weise die Berührungen Gottes mit den Menschen auch im Gelände wissenschaftlicher Arbeit kundig und sensibel aufgenommen hat.
G. war Psychologe und katholischer Theologe/Priester. Bestimmend war für ihn daher der lebendige Zusammenhang von Theologie und Erfahrung: »Die Frage nach der Erfahrung als einem umfassenden Dialog mit der Wirklichkeit ist ein genuines Thema der Theologie. Dabei geht es ihr gerade darum, Erfahrungen nicht zu reduzieren, sondern sie in einem möglichst umfassenden Kontext zu verstehen. Dabei steht die Struktur der Theologie selbst zur Disposition. Es muss der Theologie darum gehen, von Erfahrungen zu lernen, sich ihrem Wahrheitsanspruch zu stellen und so in der Veränderung ihres eigenen Denkens sich für das Geheimnis Gottes offen zu halten. Für die theologische Interpretation Simone Weils be­deutet dies, dass ihre Erfahrung umfassend erhoben werden muss, ohne sie auf einen spirituellen, religiösen oder christlichen Aspekt zu verengen.« (33 f.) Dem entsprechend wählt G. den methodischen Ansatz, Daseinsthemen im Werk Simone Weils aufzufinden (unter Bezugnahme auf die persönlichkeitspsychologischen Ansätze von Kurt Lewin und Hans Thomae). Maßgeblich dafür ist Simone Weils Briefwechsel von 1942 mit dem Dominikanerpater Perrin sowie ein weiterer Brief an den Freund Joe Bousquet. In diesen insgesamt sieben Briefen gibt Simone Weil ausführlich Rechenschaft über ihre spirituellen Prägungen und Überzeugungen. Insbesondere ihre sog. »Spirituelle Autobiographie« ist geeignet, die Fülle der Themen in ihrem Zusammenhang zu verstehen.
Aus dieser Einsicht ergibt sich für G. der erste Schritt, nämlich entlang der »Spirituellen Autobiographie« zunächst ein Spektrum von 19 zentralen Daseinsthemen zu erheben, gegliedert in sieben Themenbereiche (Traditionen des eigenen Denkens, Selbstwahrnehmung und Selbstverständnis, Wahrnehmung der Be­ziehung zu anderen Menschen, Liebe zur Wahrheit, Condition humaine: Unglück und Verpflichtung, Spirituelle Erfahrung, Auseinandersetzung mit der Kirche). In diesem Durchgang werden mit vorangestellten Textbeispielen und nachfolgender Zusammenfassung die 19 Themen vorgestellt und kurz erläutert. So wird auch dem interessierten Laien ein verständlicher Zugang eröffnet, die Gedankenführung Simone Weils mit zu vollziehen, ganz abgesehen da­von, dass ihr ebenso authentischer wie leidenschaftlicher und durch intellektuelle Redlichkeit charakterisierter Stil die Lektüre ihrer Briefe zu einer lebendigen Auseinandersetzung macht.
Dazu schreibt G.: »In all diesen Texten begegnete mir eine Frau, die einen wachen und aufmerksamen Blick für die Wirklichkeit hatte und unbeeindruckt von ideologischen Systemen ihrer Erfahrung treu blieb, auch wenn sie dadurch zur Außenseiterin wurde. Das ist bis in ihre Sprache hinein zu spüren: Sie spricht ein kraftvolles und poetisches Französisch, unbeeinflusst vom Jargon bestimmter gesellschaftlicher Milieus oder weltanschaulicher Gruppen. So wirken auch ihre religiösen Texte nicht betulich oder verstaubt. Das katholische Pathos ihrer Zeit ist ihnen fern, vielmehr ist bis heute in jeder Zeile ein direkter und persönlicher Ton zu vernehmen. Hier spricht in großer Unmit­telbarkeit ein Mensch, der von Gott berührt worden ist, und davon auf persönliche und ehrliche Weise Zeugnis gibt.« (23)
In einem zweiten Durchgang werden die Themenbereiche mit dem Textmaterial aus den weiteren Briefen angereichert und ausführlich entfaltet. (Etwas irritierend ist leider, dass für den zweiten Durchgang die Anordnung des ersten nicht exakt beibehalten wurde: So gibt es hier nur noch 16 Themen, davon erscheinen einige Themen in veränderter Reihenfolge, auch sind deren Überschriften bisweilen anders formuliert – hier wäre ein redaktioneller Eingriff hilfreich gewesen). In jedem Fall ist der zweite Durchgang – auch vom Umfang her – der stärkste Teil dieser Studie, weil es G. gelingt, die eng verwobenen Gedanken in ihrer Kohärenz herauszustellen, einzelne Themen in ihren unterschiedlichen Bedeutungsniveaus auszuloten, dabei in großer Aufmerksamkeit die sprachliche Eigenart Simone Weils zu beachten (immer wieder auch in verständlichem Rückgang auf die französische Sprache) und zugleich die analytische Schärfe und interpretatorische Fähigkeit im Modus der eigenen Sprache zu vermitteln, so dass im konzentrierten Lesen die Freude gelungener Einsichten einleuchtend gemacht wird. Das möchte ich beispielhaft vorführen:
Das Thema »Unglück«, im ersten Durchgang kurz skizziert (57f.), wird im zweiten Durchgang in vier Aspekten entfaltet:
a: Formen des Unglücks: physischer Schmerz und soziales Elend, b: Einstellung zum Unglück: consolation und hypomoné, c: Unglück, Liebe und Gotteserfahrung, d: Einspruch durch das Unglück der anderen. Wird zunächst aufgezeigt, in welchem persönlichen Erleben Simone Weil das Unglück verortet, wird anschließend die für sie offenbarende Qualität des Unglücks als Wirklichkeitserkenntnis, der man sich stellen muss, um zu seiner Wahrheitserkenntnis durchzudringen, als soteriologische Dimension herausgearbeitet. Allein die Liebe zur Wahrheit vermag das untröstliche Leiden als existentielle Haltung durchzutragen. In dieser Haltung wird der Zusammenhang von Unglück, Liebe und Gotteserfahrung bei Si­mone Weil bis in ihre sprachlichen Bilder transparent gemacht.
Gott durch das Unglück hindurch lieben heißt im französischen Original: d’aimer l’amour divin à travers le malheur. Dass die Präposition à travers vermit­telnde Bedeutung hat, wird nun von G. wunderbar dargelegt, indem er das à travers in zwei Metaphern von Simone Weil hinzuzieht: 1. Man soll die Wirklichkeit Gottes … so deutlich empfinden, wie die Hand die Beschaffenheit des Papiers durch den (à travers) Federhalter. 2. Durch die Schleier (à travers) des Fleisches hindurch empfangen wir von oben Vorempfindungen der Ewigkeit.
G. schreibt dazu: »Sowohl die Schreibfeder als auch der Schleier trennen und verbinden gleichzeitig, so vermitteln sie eine Ahnung oder eine indirekte Berührung. Das Unglück als eine der ›choses exterieures‹ ist so etwas anderes als der neutrale Hintergrund oder eine dunkle Folie, vor der sich die Liebe Gottes umso leuchtender ab­hebt, es weist als Teil der Wirklichkeit über sich selbst hinaus und vermittelt den Kontakt mit etwas, das es selbst nicht ist.« (134)
Und auch dem letzten Aspekt des Unglück-Themas gewinnt G. die entscheidenden Nuancierungen ab, indem er darlegt, dass das Ineinander von Unglück und Gottesliebe bei Simone Weil nicht in einer Theodizee (Rechtfertigung Gottes angesichts menschlichen Leidens) aufgeht, sondern im Leiden am Leiden-Müssen der anderen unauflösbar in Frage gestellt bleibt.
Die theologische Bedeutung Simone Weils wird verständlich zur Sprache gebracht und führt so in fruchtbare und notwendige Auseinandersetzung mit dem perspektivisch verengten Selbstverständnis der katholischen Kirche, die für Simone Weil gerade nicht den ihr aufgegebenen universalen Anspruch Gottes, sich ganz in die Welt zu inkarnieren, erfüllt. Diese Auseinandersetzung wollte G. im theologischen Schlussteil dezidiert aufnehmen. Dazu fehlte ihm die Le­benszeit. Aber schon die noch festgehaltene Skizze seiner »Théologie weilienne« ist spannend. Gern würde ich darüber mit ihm ins Ge­spräch kommen – so wie anlässlich einer Simone Weil-Tagung im Mai 2000 in Diessen am Ammersee. Dann würde ich ihm als evangelische Theologin vorschlagen, Simone Weils Theologie entlang ihrer eigenen Topoi zu entfalten, um sie anschließend in Dialog zu bringen: nicht allein mit dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz, sondern auch mit dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, mit dem sich ihre theologischen Erfahrungen und Gedanken sowie ihre geistlich-radikale Leidenschaft in so vielem berühren.