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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1368–1370

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Heit, Alexander

Titel/Untertitel:

Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systema­tischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Re­ligionsphilosophie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 288 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 115. Geb. EUR 62,90. ISBN 978-3-525-56343-4.

Rezensent:

Folkart Wittekind

Zum ersten Mal seit langem liegt mit H.s Buch wieder eine protes­tantische Monographie über Kants Religionsphilosophie vor. Sie nimmt die praktisch-philosophische Debatte über diesen Gegenstand aus den letzten Jahren auf, schlägt aber eine ganz andere, entschieden »theologische« Auslegung vor. Es ist die leitende These der Studie, dass sich die praktische Vernunft nur dann selbst (als frei und gut) verstehen könne, wenn sie die Notwendigkeit ihres Erlöstwerdens sowie als dessen Voraussetzung ihre reale Versöhnung durch Schuldvergebung ab extra akzeptiere. So wird aus dem rationalen ›Philosoph des Protestantismus‹ ein moderner Theo­loge der Reformation, gleichsam ein Supranaturalist höherer Ordnung.
Das erstaunt zunächst. Doch dem Buch gelingt es, die aufgestellte These in einer ausgreifenden Interpretation der Religionsschrift klar, zusammenhängend und sprachlich überzeugend zu erläutern. Der an der Heilsvermittlung orientierte Aufbau der Dogmatik, den Kant in seiner Religionsschrift übernimmt, ist auch der Rekonstruktionsweg H.s: Nach einer Einführung in Deutungsperspektiven und gegenwärtige Fragestellungen verläuft der Argumentationsgang von der Sünde (2.) über die Erlösung (3.) hin zur Versöhnung bzw. Rechtfertigung als Grundlegung des Subjekts (4.), sodann von hier aus zur Heiligung (5.) als individuellem (5.1.), gemeinschaftlichem (5.2.) und weltvollendendem (5.3.) Geschehen. Dabei wird immer wieder auf andere Texte ausgegriffen, allerdings nicht unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, sondern mit der Prämisse, dass die Religionsschrift den eigentlichen systematischen Kern von Kants praktisch-philosophischem Schrifttum darstellt.
Das Sündenkapitel bietet die anthropologische Grundlegung der Religionsphilosophie. Freiheit, Sittengesetz und Achtung sind die ethischen Grundbegriffe, auf denen dann die religionsphilosophische Weiterführung in den Begriffen des Bösen, der Sünde und Erbsünde erfolgt. Das Kapitel zielt auf den Nachweis, dass Kants Lehre vom radikalen und universalen Bösen nicht nur ein Unfall der praktischen Philosophie ist, sondern sich aus und in ihr erklären lässt (81). H. geht de facto noch einen Schritt weiter: Das Böse ist nicht nur erklärbar, sondern seinerseits die Grundlage einer vernünftigen praktisch-philosophischen Anthropologie. Denn das »religiöse Verständnis des Sittengesetzes ist ... unthematisch mit jedem Handlungsvollzug gegeben« (68). Das bedeutet: Die religiöse Anthropologie beruht auf einer Analyse des Handlungsvollzugs des wirklichen Subjekts und der in diesem wirkenden allgemeinen Gesetzesbindung.
Nach der Sünde folgt die Erlösung, also die kantische Revolution der Denkungsart. Die Möglichkeit des Wandels zur Sittlichkeit kann aus dem wirklichen, empirischen Subjekt nicht erklärt werden. H. akzeptiert zwar die Grundlagenfunktion der Freiheitsidee, fordert aber deren Anwendung immer nur in Verbindung mit der Verfasstheit empirischer Subjekte. Religion und Gottesgedanke haben genau nur in dieser Verbindung ihren Ort. Diese Perspektive wird durch zwei interpretative Neuerungen gerechtfertigt: Zum einen wird (darauf wird im Buch dann immer wieder zurückgegriffen) Kants Glaubensbegriff als religiöse Deutung praktisch-philosophischer Sachverhalte (113–117) und so als Legitimation eines hypostasierenden Rückschlussverfahrens in der Selbstsicht der praktischen Vernunft erläutert, zum anderen wird Kants Analyse des Erhabenen in eine Theorie der möglichen intelligiblen Selbstwahrnehmung des noch bösen Subjekts überführt und dies mit dem theologischen Gebrauch des Gesetzes sowie der Lehre von der Reue als Beginn des Heilsweges kurzgeschlossen (117–136).
Das Zentrum des Buches ist der Teil über die Rechtfertigung. H. wendet sich entschieden gegen »fichteanisierende« Deutungen von Kants Moralphilosophie (155–160). Die Perspektive des einzelnen Handlungssubjekts verlangt immer auch notwendig die Befriedigung der sinnlichen Begierde (150–155). Die notwendige Schuldvergebung wird so zur Anerkennung dieser Sinnlichkeit und der Identität des sinnlichen Subjekts im moralischen Wandel. Die Chris­tologie beschreibt die historisch-kontingenten Bestandteile des Subjekts im Wandlungsprozess. Die Externität der Satisfaktion (176–180) markiert die faktische Unableitbarkeit des Unterordnungsvorgangs der Sinnlichkeit unter das Gesetz. Mit Hilfe des Schematismus der praktischen Vernunft (182–185) kann erklärt werden, wie Christus zur Darstellung des historischen Charakters allen wirklichen Handlungsbewusstseins wird. Dieses Bewusstsein ist eben nicht bloß rein und transzendental, sondern eine Verbindung von empirischem und reinem Bewusstsein, das kon­tingente Einfallstor der Moralität in das Leben – also Offenbarung. In der Struktur seines moralischen Bewusstseins ist Jesus ganz Mensch, in der religionsgeschichtlichen Unableitbarkeit seines historischen Auftretens aber ist er ganz Offenbarer Gottes (so die Rekonstruktion der nicänischen Formel, 186 f.).
Die abschließende Deutung der Eschatologie bleibt an die religiöse Sicht des Subjekts auf seinen Gesinnungswandel gebunden. Die historischen wie die jenseitigen Bestandteile der Lehre von den letzten Dingen sind Extrapolationen der Bedingungen, unter denen der Mensch sich zur Moralität wandelt. Die Gleichzeitigkeit geschichtlich-sinnlicher wie auch transzendental-sittlicher Komponenten in diesem Prozess erlaubt vielfältige bildhafte Umsetzungen. H. reformuliert mit Kant die Idee des Jüngsten Gerichts sowie seinen doppelten Ausgang, das simul iustus et peccator und die effektive Rechtfertigung als Grundlage der Heiligung. Auch Kants Geschichtsphilosophie bleibt im Rechtfertigungsgeschehen begründet. Das Auftreten Christi in der Weltgeschichte und die Gründung der Kirche ist der entscheidende religionsgeschichtliche Wendepunkt. Die Realisierung des Reiches Gottes trägt die strukturelle Erinnerung an die Entstehung aus dem Gesamtbewusstsein der Sünde bis zum Ende der Geschichte in sich. Konsequenterweise ist die Rechtfertigungslehre in dieser Deutung nicht ein kontingentes Bildmittel des Christentums, sondern der zentrale Ge­halt aller Religion, für das auch andere Religionen zumindest »funktionsäquivalente Lehrgehalte« (239) entwickeln müssen. Abschließend geht es um das Ziel der Welt: Die Gesamtintegration der Geschichte wird gedacht unter der Bedingung, dass »Menschen mit subjektiven Triebfedern ausgestattet« (269) und so »als Leib-Seele-Einheit Zweck der Welt« (270) sind. Auch die Eschatologie bestätigt also H.s Deutungsansatz, Kants praktische Philosophie religionsphilosophisch in eine Selbstdeutung des empirischen Handlungssubjekts zu überführen und die transzendentalen Bedingungen aus der Sicht dieses Subjekts religiös zu deuten.
Immer wieder kontextualisiert H. seine Kantinterpretation in systematischer Absicht, so innerhalb der ökumenischen Diskussion um die Rechtfertigungslehre, der Lutherinterpretation im Kontext der Lutherrenaissance und der Kantrezeption der RitschlSchule. Die intendierte Zusammenbindung von Luther, Kant, mo­dernem Protestantismus und Versöhnungsidee hängt, wie insbesondere die Berufung auf die Hollschule, aber auch die »kantische« Deutung der Ritschlschule zeigt, an der gewählten Interpretationsperspektive. Über den historischen Wert solcher systematischen Zuordnungen mag man streiten. Aber dass auch im Blick auf Kant weiterhin Ansätze möglich sind, die ein neues Licht auf seine Religionsphilosophie werfen, hat H. überzeugend gezeigt. Bleibt die historische Frage, ob damit nicht Kant unzulässig modernisiert wird und ob die Idee der Transzendentalphilosophie als Grundlage einer Rekonstruktion seiner Religionsphilosophie bewahrt ist.