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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

958–961

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brecht, Martin [Hrsg.] - In Zusammenarbeit mit J. van den Berg, K. Deppermann, J. F. G. Goeters, H. Schneider

Titel/Untertitel:

Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. XI, 584 S. m. Abb. gr. 8o = Geschichte des Pietismus, 1. Lw. DM 120,­. ISBN 3-525-55343-9

Rezensent:

Peter Menck

Der erste Band der "Geschichte des Pietismus" vermittelt im ersten Zugang mit seiner Fülle von Personen, Motiven, Zusammenhängen und Konflikten ein so verwirrendes Bild, daß es dem Rez. zunächst einmal sehr schwerfällt, sich den Reim darauf zu machen, den man mit Fug von ihm erwartet. Beim Hg. Martin Brecht finde ich dann eine tragfähige These, als deren Prüfung man das Werk lesen kann: Im Kapitel über "Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland" geht er auf ein in der Reformation angelegtes praktisches Dilemma zurück: Die reformatorische Botschaft war zunächst "als große Befreiung von viel gesetzlicher kirchlicher Reglementierung erfahren (worden). Die hergebrachte christliche Sitte brach weithin zusammen. Sie durch Neues zu ersetzen, erwies sich als unsagbar schwierig und langwierig" (117). Das Grundproblem war dabei "die Staats- oder Volkskirche, die die kirchliche Verkündigung nur teilweise rezipierte und deren Anforderungen nur begrenzt befolgte" (118). Aus diesem Widerspruch zwischen reformatorischem Anspruch und kirchlicher Wirklichkeit entstand, wofür es in den Niederlanden die bildhaft treffende Bezeichnung der "nadere reformatie" ­ "Weiterführung oder Vertiefung des reformatorischen Ideals" ­ gab bzw. bei den englischen Puritanern die der "further reformation2 (van den Berg, 58).

Es gab unterschiedliche Lösungen: die "Bildung eines vorbildlichen Kerns innerhalb der Gemeinden"; die sozusagen separatistische Lösung eines "intensivierte(n) Christentum(s)... irgendwie neben der Kirche" (118); und Rufer, die durch ihre Predigten und Schriften wirkten, wie beispielsweise Jacob Böhme (zu den beiden letzteren insbesondere die Kapitel über "Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts" von Brecht, und den "radikale[n] Pietismus im 17. Jahrhundert", von Hans Schneider bearbeitet).

Tatsächlich fanden in Kirche und Theologie auch Reformen statt; das wird für England und den Puritanismus (Klaus Deppermann), für die Niederlande (Johann van den Berg) und die lutherischen deutschen Territorien (Brecht) sowie die reformierten (Johann Friedrich Gerhard Goeters) im Detail nachgezeichnet. Radikalen Reformern genügte das nicht. "Zwischen der Spätorthodoxie und dem Pietismus kam es in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts zur harten Konfrontation. In dieser Situation schuf Gottfried Arnold in seiner Kirchen- und Ketzerhistorie (1699) das Feindbild von der toten Orthodoxie, das vom Pietismus wie von der Aufklärung übernommen wurde und bis heute derart haftet, daß es den unbefangenen Blick auf die Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts verstellt" (167). Brechts These und Prinzip der Darstellung ist in allen Beiträgen demgegenüber, daß sich "lutherisches (und calvinistisches, P. M.) Kirchentum sowie orthodoxe Theologie und die neue Frömmigkeit samt ihren Reformbestrebungen gegenseitig durchdrungen haben". Und: "Weil es sich um Entwicklungen innerhalb des Systems handelte, bewirkten sie keine totale Veränderung". Damit konnten, so formuliert es Brecht, die "Strukturprobleme der Kirche und Theologie wie der neuen Bewegung" fortbestehen (ebd.).

In den zentralen, großen Kapiteln über "Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen" (281-389) und "August Hermann Francke und der Hallische Pietismus" (440-539) ­ beide von Brecht bearbeitet ­ begegnet man diesem grundlegenden Widerspruch wiederum, vor allem bei dem ersteren.

Die überwältigende und für den Nicht-Experten streckenweise etwas unübersichtliche Fülle des Materials macht einen Bericht ganz schwer. Konzentriert man sich auf "die zentrale Gestalt des lutherischen Pietismus im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts", auf Spener, der dessen Programm formulierte, die "Pia Desideria" (279), so nimmt man in Kauf, daß die Vielfalt vor und neben ihm nicht gebührend abgebildet wird. Wollte man dieser gerecht werden, so käme man nicht so bald zu einem Ende. Also zunächst zu Spener.

Geprägt "durch die englische und Arndtsche Frömmigkeit" war er einer der "zweiten Generation nach Arndt", bei denen das "Empfinden für die Reformbedürftigkeit der Kirche" noch wach war (285). So übersetzte und empfahl er einerseits Erbauungs- und Reformliteratur; hatte er wohl auch viel Verständnis für radikale Spiritualisten wie Johann Wilhelm Petersen (319 u. passim; das Ehepaar Petersen zählt "kirchengeschichtlich ,zu den fesselndsten Erscheinungen des pietistischen Schwärmertums1" ­ so Schneider in seinem Kapitel über den "radikalen Pietismus", 402; auch Francke hat gelegentlich Sympathie für ihn bekundet, 464). Auch führte er in Frankfurt "collegia pietatis" ein (295 ff.), ein sozialer Ausdruck der Kirchenkritik von Anfang an, von den puritanischen Konventikeln über die calvinistischen bis hin zu Franckes collegia biblica. Andererseits bemühte Spener sich, letztlich mit Erfolg, keine Ansatzpunkte für den Vorwurf der Heterodoxie zu geben, damit er ­ als Senior der lutherischen Pfarrer in Frankfurt, als Oberhofprediger in Dresden und als Probst an der zweiten Berliner Hauptkirche, St. Nicolai ­ für die Reform der Kirche wirken konnte.

Er tat das auf vielfältige Weise: publizistisch, die "Pia Desideria" werden in einem eigenen Abschnitt ausführlich gewürdigt (302-316); durch persönliche Kontakte; durch umfangreiche Korrespondenz und ­ durch eine erfolgreiche Personalpolitik (wie übrigens auch Francke), was Brecht allerdings eher nebenbei erwähnt (354 ff.). Tatsächlich war er ebenso umstritten ­ wie mir scheint; nur ein Spezialist vermag die ganzen Auseinandersetzungen zu überblicken, über die Brecht berichtet ­ wie unbestritten wirksam. Zustimmend zitiert Brecht, Spener sei "als der bedeutendste lutherische Kirchenmann und Theologe seines Jahrhunderts bezeichnet worden"; "er hatte die Herausforderung seiner Zeit erkannt und vermochte ihr angemessener als andere zu entsprechen" (378).

August Hermann Francke wird als Vertreter der "neue(n) Generation von Pietisten" dargestellt, "die Speners Konzeption eines kirchlichen Pietismus mit ihrem Radikalismus zunächst gefährdete und dann zumindest modifizierte" (440) ­ wieder dasselbe Interpretationsmuster. Ich sehe Franckes Bedeutung darin, daß er 1. die von Spener konzipierte Reform des Theologiestudiums realisierte, wofür die neugegründete Universität in Halle geeignete Randbedingungen bot; 2. die "katechetische Jugendunterweisung" erneuerte (531) und darüber hinaus vor allem in ihrer Struktur wegweisende und dauerhafte Anstalten zur umfassenden Erziehung und Unterrichtung der Jugend machte, die an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert waren; 3. neben dem der Theologen den Stand der Lehrer konzipierte und erste Ansätze zu einer professionellen Ausbildung derselben praktizierte; 4. auf unterschiedlichen Wegen (u. a. durch Druckerei und Apotheke, dazu durch eine geschickte Personalpolitik und durch die Mission) mit Erfolg und weltweit für die Ausbreitung des Pietismus sorgte.

Was ist der "Pietismus"? Die Herkunft des Spitznamens wird erwähnt (4); eine Definition ist recht schwer zu geben; Brecht umschreibt diese "bedeutendste Frömmigkeitsbewegung des Protestantismus nach der Reformation", ein primär religiöses Phänomen (1), nach der räumlichen Ausbreitung, den gemeinsamen Vorstellungsinhalten, den sozialen Trägern der Bewegung und den Wirkungen (1 f.) ­ eine brauchbare Arbeitsdefinition. Methodisch ist die zeitliche Eingrenzung nicht unproblematisch. Die Hgg. fassen den Begriff nicht eng; sie folgen der Konzeption von E. F. Stoeffler, der "mit dem pietistischen Puritanismus beginnt, sodann auf den reformierten Pietismus vor allem der Niederlande eingeht und abschließend den deutschen lutherischen Pietismus behandelt, zu dem aber nicht erst Spener, sondern bereits Johann Arndt gerechnet wird" (5). Und man läßt die Geschichte nicht mit dem 18. Jh. enden, sie wird vielmehr bis in die Gegenwart hinein verfolgt (dem ­ soeben erschienenen ­ 2. Band über den Pietismus des 18. Jh.s sollen ein weiterer zum 19. und 20. sowie einer zu den Wirkungen des Pietismus folgen).

Der Definition entsprechend, steht im Zentrum der Rekonstruktion der "Zusammenhang theologischer Eigentümlichkeiten mit dem praktischen Lebensvollzug und der umgebenden Gemeinschaft" (7). Tatsächlich steht vor allem beim deutschen Pietismus das erstere dominierend im Vordergrund.

Das mag zwar daran liegen, daß die Sozialgeschichte noch unzureichend erforscht ist (ebd.); tatsächlich entspricht das aber auch der Konzeption. Denn obwohl das religiöse Phänomen nicht eo ipso eine vornehmlich theologische Interpretation erforderte, wird ­ vom Puritanismus-Kapitel abgesehen ­ eine solche durchweg vorgezogen. Die Randbedingungen seien von Land zu Land sehr unterschiedlich gewesen. In England führte die kirchliche Protestbewegung in eine Revolution, in den Niederlanden richtete sich der Pietismus "gegen ein sich emanzipierendes Bürgertum, in Deutschland gegen einen erstarrenden Konfessionalismus" (7); das Gemeinsame ist herauszuarbeiten, und das liegt tiefer. Das ist wohl richtig. So fällt es mir dann aber schon für den niederländischen Pietismus schwer, den Zusammenhang mit den besagten Rahmenbedingungen zu sehen; in Deutschland ist dann vollends so gut wie nicht mehr die Rede davon. Ich empfinde diese Option als einen Mangel, allerdings wird er teilweise kompensiert durch einen recht ausgeprägten biographischen Zugang zu den Protagonisten.

Eine Grenze hat ihre klassische Dialektik. Hg. und Autoren beschränken sich auf die eine Seite, sie nähern sich ihr sozusagen von innen, eben vom Pietismus her. Die Orthodoxie: Das ist auf der anderen Seite die den Pietismus ausgrenzende Macht. Manchmal gibt es auch sozusagen grenzüberschreitende apologetische Bemühungen: "... verblieb Francke in den Denkbahnen der Orthodoxie" (469). Gewiß ­ das ohnehin schon schwer zu bändigende Material würde ins Unbewältigbare wachsen, wollte man die Position, gegen die der Pietismus sich als solcher profilierte, ihrerseits systematisch bezeichnen. Auf der anderen Seite könnte ein eher unbeteiligter Leser sich aber die Frage stellen, ob die ­ ,rechte1 ­ Lehre allein schon deswegen suspekt ist, weil sie und ihre Vertreter von radikal biblisch argumentierenden Theologen und Laien kritisiert wurde. Nicht zu vergessen, wie gesagt, daß die Grenzen fließend sind. Der ­ unschöne ­ Streit Franckes mit dem Philosophen Christian Wolff ist mir ein schönes Beispiel dafür, wie jemand, der gegen die Macht einer ,rechten1 Lehre antrat, selbst dieselbe Macht für sich in Anspruch nahm, wo er über sie verfügte (504 ff.; so auch zur Auseinandersetzung mit Valentin Ernst Löscher, 507 ff.).

Aber damit wäre das Werk bereits verlassen, der verdienstvolle Versuch, das eigenartige, faszinierende und historisch so fruchtbare Phänomen des Pietismus so zugänglich zu machen, daß man sich bei der Lektüre einen Begriff davon machen kann und bei Bedarf zu Werken geführt wird, die ein näheres Studium ermöglichen. Man sollte dies, wenn möglich, nicht versäumen. Mit dem biographischen Zugang ist ein durchgängiges Bemühen um Verständlichkeit verbunden, und das ist bei der Vielfalt der ­ dann auch noch kontroversen ­ Theologoumena sehr dankenswert. Manchmal hätte ich mir allerdings präzisere statt eingängiger Formulierungen und systematisierende statt eher aufzählende bzw. paraphrasierende Gedankengänge gewünscht. So finde ich die Aussage zu Franckes pädagogischem Werk geradezu ärgerlich ungenau: "Das Kind erscheint dem christlichen Zweck des Menschseins untergeordnet, weshalb ihm keine Selbstbestimmung zugestanden wird. Der Lernstoff ist im manchem eng ausgewählt. Die Tugenden von Fleiß und Gehorsam sind allzu systemkonform." (492)

Leider entspricht dieser irreführenden Passage eine wenig aufschlußreiche und lückenhafte Darstellung der Schulordnungen (492-494). Und gänzlich unerfindlich ist mir die Basis für dieses: "In der Entwicklung der Lehrerbildung durch Lehrerseminare und in der akademischen Erziehungswissenschaft ist es durch Francke und in Halle zu einem Durchbruch gekommen" (496). Schon das mit den Lehrerseminaren kann man so nicht sagen; und was den Durchbruch der akademischen Erziehungswissenschaft betrifft ­ davon sollte ich eigentlich etwas wissen ­ so ist davon nichts bekannt.

Wie es sich für ein solches Werk gehört, ist es mit den einschlägigen Registern (Personen, Orte, Sachen) ausgestattet. Gewöhnungsbedürftig finde ich die Literaturnachweise. Am Anfang eines Beitrags, dann eines jeden Kapitels derselben findet man einschlägige Editionen und Monographien; 541 f. "Abgekürzt zitierte allgemeine Quellen und Literatur"; und am Ende der Beiträge, kapitelweise numeriert, die Anmerkungen mit weiteren Nachweisen. ­ Die bedeutendsten Persönlichkeiten, einige Örter, Titelseiten von wichtigen Schriften u.ä. sind abgebildet (kapitelweise numeriert, ohne Abbildungsverzeichnis); die Wiedergaben sind allerdings nicht von besonderer Qualität.

Alles in allem: Ein verdienstvolles Werk, das, über gängige Schematisierungen: Pietismus versus Orthodoxie bzw. Aufklärung, hinausgehend, den Reichtum dieser geistigen Bewegung eröffnet. Wer an dem sozialen, politischen, ökonomischen (und pädagogischen) Kontext interessiert ist, dem ermöglicht die umfangreiche Literatur weitere Zugänge.