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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1367 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Di Gregorio, Mario A.

Titel/Untertitel:

From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 637 S. m. 19 s/w Abb. gr.8° = Religion, Theologie und Naturwissenschaft, 3. Geb. EUR 72,90. ISBN 978-3-525-56972-6.

Rezensent:

Wolfgang Achtner

Der Wegbereiter der Evolutionstheorie in Deutschland, der im 19. Jh. sehr bekannte und einflussreiche Biologe und Naturforscher Ernst Haeckel (1826–1919), gilt vielen als der deutsche Darwin. Wer die nahezu 600 Seiten (englisch) der mit vielen und langen Quellenzitaten gespickten wissenschaftlichen Biographie des italienischen Wissenschaftshistorikers Mario A. Di Gregorio der Universität L’Aqui­la gelesen hat, bekommt einen differenzierteren Blick auf die Rolle Haeckels im 19. Jh. und seine spezifische Form der Evolutionstheorie. Das Buch ist in drei große Teile gegliedert (I: Development or Faust, II: Unity or Gretchen, III: Eternity or Mephistophel­es), die sich an Haeckels Lebensgeschichte orientieren. Im ersten Teil stehen seine Jugend, seine religiöse Herkunft (Kulturprotes­tantismus), die entscheidenden wissenschaftlichen Weichenstellungen (Opus Magnum: Generelle Morphologie der Organismen, Stettiner Rede, erste Bekanntschaft mit Darwins Werk) und seine wichtige Zusammenarbeit mit dem einflussreichen Morphologen Carl Gegenbaur. Der zweite Teil ist vornehmlich der Kooperation mit Gegenbaur und den Kontroversen mit konkurrierenden Forschungsansätzen gewidmet (z. B. Agassiz, Berliner Schule um Du Bois-Reymond und Würzburger Schule um Virchow) und dem Beginn der Arbeit an einer Natur und Gesellschaft umfassenden Philosopie (Monismus), in der die Kooperation mit D. F. Strauss und Bartholomäus von Carneri eine wichtige Rolle spielt. Der dritte Teil stellt dann Haeckels Ausarbeitung seiner monistischen Weltsicht dar, einschließlich seiner (ideologischen) Synthese zwischen Religion und Wissenschaft (487–498), sowie den Niedergang seiner Philosophie seit dem I. Weltkrieg.
Di G. entfaltet ein weit ausladendes Panorama von biographischen, forschungsstrategischen, forschungspolitischen, philosophischen, politischen, kulturellen und schließlich auch theologischen Kontexten, in denen das lange Wirken Haeckels anzusiedeln ist. Er arbeitet dabei die unterschiedlichen Forschungstraditionen Darwins und Haeckels heraus. Während Darwin im Kontext des englischen Empirismus (Hume) zu sehen sei, verortet er Haeckel in der Tradition der deutschen (romantischen) Naturphilosophie eines Goethe, Oken, Johannes Müller und Alexander von Humboldt, an der er jedoch auch Korrekturen vornimmt, z. B. die Elimination aller Teleologie. Umgekehrt ist Ernst Haeckel nicht nur ein Rezipient der Darwinschen Theorie, sondern er benutzt die Theorie Darwins, um sein eigenes evolutionäres System, das letztlich mit seinen Hauptaspekten der Einheit, Ewigkeit und Entwick­lun g– so die spezifisch Haeckelsche Diktion – empirisch zu untermauern. In diesem Sinne sei – so die Hauptthese Di G.s – Haeckel wissenschaftlich gesehen im Unterschied zu Darwin ein Konservativer gewesen, der sich letztlich nicht von der romantischen Naturphilosophie gelöst und den darwinistischen Paradigmenwechsel vom Typus zur Typenänderung nicht mitgemacht habe.
In der Tat bettet Haeckel seine »Entwickelungstheorie« in seinen weit ausgreifenden breiten philosophischen Kontext eines uni­ver­salen evolutionären Monismus ein, einer einheitlichen »Weltanschauung«, die mit dem Urschleim beginnt und mit dem deutschen Universitätsprofessor als höchstem Repräsentanten des Menschengeschlechts und als Verkörperung von Ethik und Kultur en­det. Im Sinne des Systemzwangs des Monismus erfährt der er­staunte Leser, dass es für Haeckel eine »Atomseele« gibt und dass die Flüssigkeitskristalle mit ihren »Kristallseelen« das lange gesuchte missing link zwischen belebter und unbelebter Materie darstellen. Diese allumfassende »Entwickelung« macht den philosophischen Monisten Haeckel zum Prediger des Evangeliums des allgemeinen kulturellen und ethischen Fortschritts, dem man dann auch schon einmal Krebskranke, Demente und behinderte Kinder opfern kann. Haeckel befürwortet ihre Tötung, da sie den Fortschritt des Menschen hindern. Di G. arbeitet heraus, dass Haeckel als »scientific fundamentalist« (550) allerdings in scharfer Konkurrenz mit solchen philosophisch orientierten Naturwissenschaftlern stand, die, an Kant geschult, weniger erkenntnisoptimistisch waren.
Dies gilt vor allem von den »Berlinern« um Du Bois-Reymond (ignorabimus) und dem Würzburger Virchow (restringamur), denen Haeckel ein trotziges »impavidi progrediamur« entgegenschleudert. Fast un­nötig zu erwähnen, dass Haeckel neben den Kantianern vor allem auch in der verfassten Christenheit den Hauptgegner seiner Evolutionstheorie ausmacht. Für ihn sind Schöpfung und Evolution unversöhnliche Gegensätze. Darüber hinaus nimmt er Anstoß am anthropologischen Pessimismus der Theologie und am transzendenten Gottesbild der Christenheit (199 ff.). Interessant ist es, in diesem Zu­sammenhang zu erfahren, dass sich Haeckel im Sinne seines Fortschrittsglaubens mit dem abgefallenen Theologen David Friedrich Strauss (»Der alte und der neue Glaube«, 364–376) verbündet und den Gott des Fortschritts und den Gott der Natur verkündet.
Neben dem breiten Quellenmaterial, den umfassenden zeitgeschichtlichen, wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontextualisierungen kann der Leser mit Gewinn die Vita Haeckels vor allem als Paradigma dafür lesen, in welche Untiefen man gerät, wenn man die Evolutionstheorie derart von ihrem ursprünglich von Darwin vorgesehenen Bereich löst, sie auf kulturelle, ethische und politische Bereiche erweitert und philosophisch und religiös auflädt.