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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1364–1367

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Barth, Ulrich

Titel/Untertitel:

Gott als Projekt der Vernunft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XII, 518 S. 8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 3-16-148693-5.

Rezensent:

Udo Kern

Bei diesem Band handelt es sich um eine Aufsatzsammlung des Hallenser Systematischen Theologen Ulrich Barth, die aus 17 Beiträgen besteht, von denen zwölf in den Jahren 1989 bis 2004 veröffentlicht wurden. Die übrigen fünf werden zum ersten Mal publiziert. Der Aufsatzsammlung ist ein vierseitiges Vorwort vorangestellt, Na­men- und Sachregister beschließen sie. B. will die Sammlung unter einer gemeinsamen Intention und Klammer zusammenhalten. Denken impliziere das Fragen »nach einem letzten Grund bzw. Gefüge letzter Gründe«, das Denken bedürfe der Notwendigkeit des Gedankens des Absoluten. Es führe von sich aus »auf die Idee des Absoluten«. Von hier aus sei auch die »kulturelle Zwitterstellung des traditionellen Gottesbegriffs«, sich als Thema der klassischen Philosophie und als religiöse Vorstellung in der religiösen Welt zu generieren, zu begreifen (VII). B. sieht den intentionalen Fokus seines Buches darin, sich diesbezüglich »auf die philosophische Be­gründungsebene« zu konzentrieren – und zwar »in Form exemplarischer Fallstudien und übergreifender Konstellations­ana­lysen den Zusammenhang zwischen Rationalitätsverständnis und Gottesgedanken bzw. Religionsauffassung zu klären« (IX f.). Wissenschaftlicher Theologie sei mit Nachdruck zu empfehlen, »den Begriff der Religion und die Idee des Unbedingten konstruktiv zu vermitteln«, weil der Gottesgedanke in seiner lebensweltlichen Relevanz sich dort zeige, wo derselbe Eingang fände »in die konkrete Selbst- und Weltdeutung des Menschen« (VIII). Die rationale Bewährung der Gottesvorstellung sei auf die philosophische Idee des alles bedingenden, aber selbst nicht bedingten Unbedingten zu beziehen. Das will B. nun innerhalb seines historisch-systematischen Programms exemplarisch von Homer bis hin zu Dieter Henrich entfalten.
Er beginnt mit der griechischen Tradition, denn »die Wiege des europäischen Vernunftbegriffs steht im achten vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland« (3). B. beschäftigt sich mit epistemologisch und theologisch relevanten Aspekten des griechischen Vernunftbegriffes, untersucht Platons Gottverähnlichungstheorem (homoiosis theo). Plato, dessen Denken tiefreligiös geprägt sei, konstatiere Wesensgleichheit zwischen dem Guten und Gott, die eine normierende Funktion hinsichtlich Gott und dem Guten voraussetze. Die altkirchlichen (neu)platonisch geprägten frühchristlichen Apologeten rezipierten in Konkordanz mit dem platonischen Erbe die ho­moiosis theo adäquat ihrem Ursprung als universale Telosdefinition des Menschen. Das hätte schöpfungstheologische und lo­gos-christologische Valenzen und Auswirkungen auf die altkirchliche Versöhnungslehre. Das platonische Vernunftideal sei auch von Augustin inkorporiert worden und ermögliche ihm die theologische Grunddifferenzierung zwischen pistis und gnosis. Das Verhältnis von ratio und auctoritas werde augustinisch als »zwei Wege des Lernens« be­griffen. Das »spekulative Zentrum christlichen Letztbegründungsdenkens, gleichsam die höhere Mathematik des Christentums«, ist die Trinitätslehre, wie B. zu Recht betont (106). Für Augustin sei nur trinitarisch ewige Wahrheit und schlecht­hinnige Transzendenz des Einen aufeinander zu beziehen.
Die sparsamen Ausführungen B.s zu scholastischem Denken gehen nicht über eine sehr grobe Skizzierung hinaus. So wird z. B. Thomas von Aquin betreffend die geläufige Unterscheidung zwischen Natur-Übernatur genannt, vom Habitus des Glaubens gesprochen und das alles dann bei Thomas als christliche Intellektuellenreligiosität gefasst. Für den Kenner mittelalterlicher Philosophie sind die Hinweise auf scholastisches Denken wenig philosophisch und theologisch profiliert. Die sehr verbreitete vornehmlich (aber nicht nur) in protestantischer Philosophie und Theologie und zeitgenössischer Philosophie zu konstatierende Abständigkeit und schematische Groborientierung verlässt auch B. letztlich nicht. Er übergeht weitgehend das für sein Thema nun außerordentlich reichhaltige und produktive Potential des philosophisch-theologischen scholastischen Denkens, auch wenn er es gelegentlich grobskizzierend erwähnt. Das europäische Denken ist philosophisch und theologisch in einer Tiefe bis heute vom mittelalterlichen Denkdiskurs geprägt.
B. ist der Meinung, dass Luther mit der christlichen Intellektuellenreligiosiät gründlich aufgeräumt hat, allerdings mit dem Ergebnis des »völligen Absturzes des Vernunftbegriffes« bei Luther (84 f.). Diesem muss der Rezensent widersprechen. Bei Luther von einem völligen Absturz des Vernunftbegriffes und vernunfttheoretischer Unvermittelbarkeit zu sprechen, ist nicht nur reichlich missverständlich, sondern geht an Luthers Vernunftverständnis vorbei. Zumal B. selbst vom positiven Gebrauch der Vernunft bei Luther hinsichtlich der iustitia civilis spricht (85).
Der zweite Teil des Buches enthält Aufsätze zu Vernunftmodellen des Aufklärungszeitalters. Denkansätze des Rationalismus (Descartes), Empirismus (Hobbes, Locke), Transzendentalismus, des Deismus, von Christian Wolff, Reimarus, Spalding und Herder werden behandelt.
Drei treibende Kräfte der Aufklärung des 17./18. Jh.s konstatiert B.: 1. das Auftreten der mathematisch-experimentellen Naturwissenschaft, 2. die Neuorientierung von Natur-, Staats- und Völkerrecht und 3. das Streben nach einem undogmatischen und überkonfessionellen Religionsbegriff. Das Religionsverständnis der Aufklärung habe in der Vernunft ihr Forum. Hieraus erwüchsen als einschlägige Maximen: »vernünftiger Gottesbegriff, vernünftige Religion, vernünftige Hoffnung, vernünftiges Christentum«. Das inkludiere die Erkenntnis, dass »die Aufklärung der Religion ... zu den dauerhaften Anstrengungen der menschlichen Vernunft gehört« (144).
Nicht nur sehr interessant und gut formuliert, sondern geradezu brillant sind die Ausführungen B.s zum Wolffschen Gottesgedanken. Wolffs philosophische Leitkategorie sei der Begriff der natürlichen Theologie und nicht der der natürlichen Religion. Wolff wolle im Unterschied zu den englischen Deisten und auch zu Reimarus, die (sich abgrenzend vom Offenbarungsglauben) eigenständige Frömmigkeitsformen anstrebten, keine natürliche Religion etablieren, sondern ausschließlich die rationalen Grundlagen von Religion legitimieren und sicherstellen. Das tue er mittels streng an Mathematik und Logik geschulten metaphysischen Beweisen. Wolff habe ein genuin apologetisches Interesse und deshalb wolle er qua metaphysischer Beweise der Gottesvorstellung Geltung verschaffen. Beeinflusst durch Wolff erkennt der Wolffianer J. J. Spalding, 1. dass Vernunft und Offenbarung nicht als Gegensätze zu verstehen sind und 2. dass vernünftige Religion quasi der Schlüssel zu einem vernünftigen Chris­tentum ist. Spalding verstehe die Vermittlung der »Religion als Moment der eigenen Lebenssicht« (169). Zu dieser Sicht war ihm seine Auffassung des via eigene Selbstprüfung zu erstellende Stufenordnung des Glücks hilfreich. Spalding komme zu der Einsicht, dass sich »allein auf dem Weg der Selbstdeutung des Menschen ein Zugang zur Religion gewinnen« ließe (169). Spalding eigne ein höheres Innovationspotential – in Differenz zu Reimarus –, denn er trenne sich von jeglichem spekulativen Gottesbeweis und stelle religiöses denkendes Bewusstsein auf eine ethisch-anthropologische Basis und übergebe »den Zugang zur Religion der Freiheit individueller Selbstdeutung«. Und damit sei die Bahn geebnet zu Kants moralischem Vernunftglauben und zur Schleiermacherschen »Umformung der überkommenen Offenbarungslehre in eine subjektivitätstheoretisch entfaltete Religionstheologie« (171).
»Der transzendentale Idealismus« lautet die Überschrift über die im dritten Teil des Buches abgedruckten Aufsätze B.s. Kant, Fichte, Schelling und Hegel sind hier B.s Bezugspunkte. Kant, »der Vater des modernen deutungstheoretischen Religionsbegriffs« (307), de­s­truiere den vorkritisch-ontologischen Theismus. »Gott« ist Kants regulativer Grenzbegriff der spekulativen Vernunft. B. arbeitet die entsprechenden Kantschen Begründungszusammenhänge in feiner Distinktion heraus und weist mit Recht die Brückenfunktion des Prototypon-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft zwischen schlusslogisch-transzendentaler regulativen Explikation der Gottesidee und Destruktion der metaphysischen spekulativen Theologie nach. Mit Recht urgiert B., dass Kants Ethikotheologie »einen ganz neuen Typus theologischer Theoriebildung« schaffe. Er beruft sich auf D. Henrich (Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 19672, 188), der in der Postulatenlehre Kants »den Ursprung einer Theologie« erblickt, »die Gottes Wesen nur aus seiner Beziehung auf den Menschen versteht« (259). Von daher erschließe sich für Kant be­griffliche Deduktion der Gotteslehre aus der moralischen Religion. Da Religion nicht Konstitution, sondern Realisierung von Freiheit eigne, habe sie nichts mit Moralbegründung zu tun. Daher komme also Religion als Ermöglichkeitsbedingung der Konstitution von Moral keine Bedeutung zu. Wohl aber sei sie für Kant schlechterdings unentbehrlich als Ermöglichkeitsbedingung der Realisierung von autonomer Moral. Nicht der (spekulative) Gottesgedanke (wie bei Anselm, Thomas, protestantischer Orthodoxie), sondern der Religionsbegriff generiere bei Kant »eine umfassende Theorie des Christentums« (259). Das entscheidende Argument Kants dafür, dass Moral »unumgänglich zur Religion« führe (RGV, AA 6, 6), liege darin, dass »das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit, glück­lich zu sein, zu bewirken.« (Ri XIII Anm., zit. 289)
Auch Schleiermacher verstehe Gott aus der Beziehung zum Menschen, wenn er seinen subjektivitätstheoretischen Religionsbegriff zum Grunddatum seiner Dogmatik nähme: Die »religiöse Gotteslehre« ist ihm »nur Analyse der Subjektivität« (zit. 261).
Der Rezensent muss hier aus räumlichen Gründen abbrechen und kann nicht die Aufarbeitung von Fichte, Schelling und Hegel für die B.sche Fragestellung urteilend skizzieren, ebenso nicht die Aufsätze B.s, die sich unter dem Titel »Depotenzierung spekulativen Denkens in der Moderne« neben Kant insbesondere religionsphilosophischen Ansätzen im 19. und 20. Jh. zuwenden. Er kann dem Leser nur empfehlen, das außerordentlich profilierte religionsphilosophische Werk B.s, das sich durch klare Sprache und inhaltlich präzise Fokussierung auszeichnet, zu lesen. Er wird es nicht ohne religionsphilosophischen Ertrag tun. Fundierte Einblicke in die religionsphilosophisch fokussierte Geschichte von prägenden Rationalitätsmodellen, insbesondere hinsichtlich des Denkens Gottes, gewinnt der Leser. Zu würdigen ist ebenfalls die produktive Heranziehung der entsprechenden Quellentexte und die sehr gekonnte Verarbeitung auch älterer Sekundärliteratur. Mit Recht bestreitet B. »prinzipielle(n) Gegenläufigkeit von christlich-religiöser Lebensdeutung und neuzeitlicher Subjektivität« (483). Man denke an »die großen Subjektivitätsschübe des Christentums«, die in den Theologien von Augustin, Luther und Schleiermacher sich theologisch begrifflich artikulierten. Fazit: »(D)ie Entstehungsgeschichte des neuzeitlichen Subjekts (kann) nicht an der Geschichte des Christentums vorbei« geschrieben werden (483 f.).