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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1361–1363

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Riedel, Friedrich Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchenmusik zwischen Säkularisation und Restauration.

Verlag:

Sinzig: Studio Verlag 2006. 416 S. m. Abb. gr.8° = Kirchenmusikalische Studien, 19. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-89564-124-4.

Rezensent:

Gustav A. Krieg

Anlass des Entstehens dieses Bandes war ein 2003 im Kloster Ottobeuren veranstaltetes Symposion zum 2oo-jährigen Jahrestag der Auflösung der Hochstifte und Klöster durch den Reichsdeputationshauptschluss. Dabei verband sich die Erinnerung an diese »Säkularisation« verständlicherweise mit dem Interesse, von dieser Thematik aus sowohl der »Säkularisierung« jener Weltordnung nachzugehen, die durch das in der Zeit Napoleons sich auflösende Heilige Römische Reich repräsentiert wurde, als auch die nachnapoleonischen Restaurationsbewegungen zu bedenken.
Das Buch ist katholisch geprägt. Das ist umso verständlicher, als die Einbrüche im katholischen Bereich deutlicher erkennbar waren als im Protestantismus, da dieser schon immer Elemente von Säkularisation bzw. Säkularisierung in sich trug (in der Reformation z. B. durch die Auflösung der Klöster und die Umwidmung des Klostervermögens zu Gunsten »bürgerlicher« Bildungseinrichtungen, vgl. J. Kremer, 305–324). Zugleich aber ist der Blick auf die alte Epoche und den Beginn der Restauration facettenreich wie das Heilige Römische Reich selbst. Das Buch ist interdisziplinär ausgerichtet, keineswegs nur auf die Kirchenmusik fokussiert (wie der Titel suggeriert), sondern enthält auch kirchen- und kunstgeschichtliche Beiträge. Auch die Schauplätze, die die Autoren betreten, sind vielfältig: Ein Schwerpunkt liegt naturgemäß auf dem deutschsprachigen Bereich (Süddeutschland/Österreich). Um diesen Raum gruppieren sich sodann Beiträge zur Entwicklung in Böhmen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien. Drei Beiträge werden dem Jesuitenorden gewidmet, in einem Beitrag sogar im Blick auf seine musikalische Tätigkeit in Lateinamerika bis zum Verbot des Ordens 1767 durch Karl III. Als »Präludium« voran steht ein (englischsprachiger) Überblick über die Geschichte der Kirchenmusik an den anglikanischen Pfarrkirchen von Heinrich VIII. bis in das 19. Jh.
Das Buch ist durchweg informativ, zumal dort, wo der Herausgeber den Autoren gestattet, über die engere Themenstellung hinauszugehen. Wo lässt sich z. B. in Deutschland etwas über ältere lateinamerikanische Kirchenmusik erfahren (J. Meier, 73–91)? Wo etwas über die frühe katholische Sakralarchitektur in den USA (M. Bringmann, 327–360; zur Kathedrale von Baltimore, 338)? Zur ang­likanischen Kirchenmusik existiert – abgesehen von einer vom Rezensenten (zudem erst neulich) verfassten Einführung in die anglikanische Kirchenmusik (Köln 2007) – im deutschsprachigen Raum keine größere Veröffentlichung. Erst recht vermittelt der Band im Blick auf seine eigentliche Themenstellung gute Informationen. Aufschlussreich sind bereits Riedels allgemeinere Ausführungen zur Säkularisation/Säkularisierung und Restauration der Kirchenmusik (47–57), auch etliche Beiträge zum historischen Detail. Dabei war für den Rezensenten besonders überraschend, wie unterschiedlich sich die Entwicklung regional darstellt. So gibt es zwar eine »aufklärerisch-josephinische« Feindschaft gegen die große instrumentale Kirchenmusik (L. K aˇcic, 195–206), ebenso kirchenmusikalische Verwilderungen, z. B. indem gängigen Opernmelodien die Messtexte untergelegt wurden (F. Metz, 212 ff.). Da­neben steht aber die Rezeption der lateinischen Gregorianik in französischer Aufführungspraxis (so im napoleonischen Mainz, vgl. W. Pelz, 271 ff.), ebenso das Bemühen um »große« Kirchenmusik nach der Art Mozarts oder M. und J. Haydns (zu Salzburg s. G. Walterskirchen, 127 f.; zu Olmütz s. J. Sehnal, 177–193). Und wenn man einigenorts die große Kirchenmusik ablehnte, förderte man doch den Gemeindegesang (K aˇcic, 196; für das nachnapoleonische Mainz Pelz, 277 f.; Chr. Schmider zur Erzdiözese Freiburg, 254 ff.). Ebenso bemerkenswert ist, dass die für das 19. Jh. »typische« Res­taurationsbewegung, nämlich die Rückkehr zur a-cappella-Polyphonie der Renaissance, zwar in beiden Konfessionen ca. 1815 be­ginnt (zu den katholischen Anfängen in München vgl. S. Gmeinwieser, 141 ff.), im protestantischen Preußen freilich schon in den 1820er Jahren sanktioniert wird, während sie sich als »Cäcilianis­mus« in den einzelnen Diözesen erst seit den 1850er Jahren durchsetzt (Pelz, 279; Waltershausen, 127).
Dennoch ist die Zustimmung zu diesem Buch nicht ganz so emphatisch, wie es bislang den Anschein hat. Über Zugewinn an Informationen mag man sich ja freuen, und nicht alle Gebietserkundungen, die zunächst mit dem Thema wenig zu tun zu haben scheinen, verfehlen das Thema tatsächlich. Das gilt für den Aufsatz über die Kirchenmusik in den Jesuitenmissionen, zum einen auf Grund der Beziehungen zwischen dem Römischen Reich und Spanien/Lateinamerika, zum anderen, weil der Untergang der Kirchenmusik dort auch Folge der Aufklärung im Umfeld dieses Reiches ist. Anfragen mag man aber an die Konzeption des Herausgebers richten: So instruktiv etwa der Text über die Musikgeschichte der englischen Pfarrkirchen (H. Davidson, 15–29) ist – zur Thematik des Bandes im engeren Sinne trägt er wenig bei (wenn man davon absieht, dass das Kirchenmusikverständnis der Oxford-Bewegung romantisch-restaurative Züge trägt). Ähnlich muss man über die (weiterhin lesenswerten!) Beiträge zu Architektur und Sakralgerät urteilen. Dabei hätte man sich die Vielfalt dieses Buches umso mehr kanalisiert gewünscht, als andere Bereiche zu wenig zur Sprache kommen, etwa die Frage nach der fundamentaltheologischen (bzw. systematisch-theologischen) Begründung auf­klärerischen oder restaurativen Kirchenmusikverstehens. Eben­falls genannt sei der Bereich der Liturgie (instruktiv, aber zu kurz die Ausführungen von Schmider über Ignaz von Wessenberg, 239 ff.), denn gerade hier liegen wesentliche Impulse zu kirchenmusikalischen Säkularisierungs- wie Restaurationsprozessen. In der Errichtung solcher hermeneutischen »Wegweiser« hätte auch für den Leser eine Hilfe bestanden, sich nicht im regionalgeschichtlichen Detail zu verlieren.
Nun darf man solche Einwände nicht überbewerten, da man sich im Blick auf den übergreifenden fundamentaltheologischen bzw. theologie- und liturgiegeschichtlichen Horizont auch anderweitig kundig machen kann. Etwas anderes bedauert der Rezensent hingegen sehr (ohne es jedoch dem Herausgeber und den Autoren zum Vorwurf zu machen): Er wird zwar mit einer Fülle von Namen und Fakten konfrontiert; viele von ihnen aber bleiben unanschaulich – unanschaulicher als in gängigen Kirchenmusikgeschichten mit ihrer Präferenz der Klassiker. In ganz geringem Maße entspricht ja dieser Faktenfülle auf dem Musikalien- und CD-Markt die Präsenz von Notenmaterial bzw. Tonträgern. Dabei geht es weniger um die Musik, die in lateinamerikanischen Kathedralarchiven schlummern mag, als vor allem um die fehlende musikalische Präsenz jener süddeutschen, böhmischen, ungarischen Kleinmeister, mit denen das Publikum in diesem Band bekannt gemacht wird. Allerdings lässt sich hoffen, dass in dem Maße, in dem sich die politische Situation in den früheren südöstlichen Landesteilen der K.-u.-K.-Monarchie geändert hat, das Material ediert und die Musik lebendig wird. Hier hat die Musikwissenschaft noch Aufgaben.