Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1350–1356

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schneider, Florian

Titel/Untertitel:

Christus praedicatus et creditus. Die reformatorische Theologie Luthers in den »Operationes in Psalmos« (1519–1521), dargestellt mit beständigem Bezug zu seiner Frühzeitchristologie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. XIV, 377 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 3-7887-2076-X.

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schaede, Stephan: Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie. Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XXIV, 716 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 126. Lw. EUR 99,00. ISBN 3-16-148192-5.


Es ist zu begrüßen, dass Christologie und Soteriologie als systematische und historische Themen in jüngerer Zeit erneut Aufmerksamkeit gewinnen. Sie sind alles, was die Theologie geben und womit sie dienen kann. Erfreulich ist, dass sie nun verstärkt in Qualifikationsarbeiten behandelt werden, nachdem sie in den vergangenen beiden Jahrzehnten bereits häufiger Gegenstand monographischer Untersuchung waren (z. B. zwei Bände von Gunter Wenz [1984/85], Ulrich Barth [1992], Ingolf U. Dalferth [1994] und Christof Gestrich [2001]).
Die beiden vorzustellenden wissenschaftlichen Debütarbeiten im Fach Systematische Theologie, eingereicht in Göttingen bzw. Tü­bingen, verfolgen ihre Themen unterschiedlich: die erste in Konzentration auf Luther, die zweite in historischer Weite. Die Schnittmenge beider Arbeiten ist zu sehen in der Verwendung oder Problematisierung des Stellvertretungsbegriffs, den Schneider in­nerhalb der Theologie Luthers für zentral hält (vgl. 275–284), während Schaede eine problemgeschichtliche Betrachtung vorzieht.
Schneiders Monographie zur Christologie Luthers bemerkt zu Recht, dass forschungsgeschichtlich die zweite seit langem im Schatten der ersten Psalmenvorlesung des Wittenbergers stehe. Dies sei nicht angemessen, da die Operationes in psalmos eine dezidiert reformatorische Christologie böten. Schneider setzt flächig an und mahnt, kein von außen kommendes Kategoriensystem an Luthers Christologie anzulegen, »wirklich alle christologischen Aussagen« innerhalb der Operationes zu erheben und gleichzeitig ihre historische Genese zu berücksichtigen (12–15). Dementsprechend weitgespannt ist Schneiders Forschungsvorhaben. Sein Verfahren besteht in einer »Rekonstruktion der Konstruktion der Christologie Luthers« (42). Der Leser wird durch insgesamt sieben Psalmenexegesen der zweiten Psalmenvorlesung geführt. Das architektonisch zentrale (Re-)Konstruktionsprinzip wird ein aus der Operatio zu Ps 8 stammendes Luther-Zitat: Christus sei leidend und zum König erhoben, er werde gepredigt und geglaubt (AWA 2, 504,19–21). Dieses angeführte Zitat avanciert zum »feste[n] kategoriale[n]« Konstruktionsrahmen der gesamten Arbeit: Gepredigter und geglaubter Christus sind als äußerer, leidender und auferstehender Christus sind als innerer Rahmen zu betrachten (30.38). Im Zuge dieser rekonstruierend-konstruierten Dispositionsentscheidung wird die Kommentierung von Ps 8 als »›Fenster‹ zur Christologie« der Operationes erkannt (19–40).
Wer mithin aus dem mit Ps 8 geöffneten Fenster oder auf das Gerahmte sieht, erblickt zuerst Ps 18, der unter der Überschrift »Christus praedicatus – Christus und Wort« steht (63–101). Dann widmet sich der Vf. unter dem Titel »Christus passus et coronatus – Die Gestalt des Christus« (102–210) dem inneren Rahmen. Hier werden die Pss 16, 3,3 f.6 und 22 analysiert. Sodann geht es wieder in den äußeren Bereich, wenn Schneider die Operatio zu Ps 19 mit dem Titel »Christus und der Glaube« überschreibt (300–336). Mit diesem vorgestellten Konstruktionsprinzip bleibt Schneider innerhalb der beiden mit Ps 8 entworfenen Rahmen: Der rekonstruiert-konstruierte Christus wird entsprechend in seinen vier »Dimensionen« des passus, coronatus, praedicatus et creditus gezeichnet. Systematisch etwas aus diesem doppelten Rahmen fällt die Interpretation von Ps 2 unter der Überschrift »Das regnum Christi als Zusammenfassung der verschiedenen Christusdimensionen« (337–347), welche die vier Zitatdimensionen aus Ps 8 abermals rekapituliert.
Dass die genannten rekonstruktiven Grundentscheidungen die historisch-hermeneutische Urteilsfähigkeit nicht immer begüns­tigen, fällt auf den ersten Blick kaum auf. Beginnen die Leserin oder der Leser, Details am Gerahmten wahrzunehmen und die sys­tematische (Re-)konstruktion auf ihren philologischen Anhalt zu befragen, dürften ihre Urteile jedoch erheblich kritischer ausfallen. Dies sticht nicht zuletzt innerhalb von Schneiders Deutung von Ps 22,2 in die Augen.
Der Verlassenheitsruf am Kreuz soll besagen, dass »(Christus) in der größten Zerrissenheit sich selbst als Entsprechung Gottes wider(findet)« (181). Hervorhebenswert sei »die explizite Göttlichkeit und Einheit mit dem Vater«, der Kreuzesschrei bringe »die Doppeltheit des Simul zum Ausdruck« (ebd.). Es ist, statt entsprechungstheoretische Gedankenfiguren zu wählen, ein zweiter Blick ratsam. Während nämlich der Wittenberger als Psalmenexeget beim modus loquendi scripturae des christozentrisch interpretierten Textes bleibt und angesichts der spezifischen Wortsituation höchst subtil bemerkt, dass im Verlassenheitsschrei zart noch etwas anderes aufscheint (WA 5,602,25–27), kommt es bei Schneider zur systematischen Überdeterminierung des Quellentextes. Niemand will die Bedeutung der Zweinaturenlehre für Luther und ihre Neuformulierung durch ihn bestreiten (vgl. ebenso 351–357). Es ist aber im Vergleich mit Psalmenkommentaren anderer Exegeten, z. B. dem Ordensbruder Luthers und Augustinereremiten Jacobus Perez von Valencia, auffällig, dass die Operatio zu Ps 22,2 die Zweinaturenlehre systematisch nicht explizit aufruft, sondern den Schrei schlicht als Mordschrei zu Gehör bringt, statt ihn sofort für die spekulative Entfaltung der Zweinaturenlehre zu benutzen. Bugenhagen, Bucer und Calvin betonen in ihrer Kommentierung ähnlich wie Luther recht schlicht den konkreten Kreuzesschrei.
Schneiders unbestreitbare Leistung ist es, auf die Vielfalt christologischer Deutungen der Operationes aufmerksam zu machen, einschärfend, dass einzelne Psalmen nicht für das Ganze von Luthers Christologie genommen werden dürfen. Die Fülle und Pluralität von Luthers Christusbildern nötigt Schneider aber auf die Weise zur Auswahl, dass er unvermeidlich anhand von einzelnen Versen eines Gesamtpsalms interpretieren muss. Die Angabe von ganzen Psalmen in den Kapitelüberschriften ist deshalb fraglich (19.168 u.ö.). Wie Schneider selbst später offenlegt (310), wird keine Psalm­exegese in ihrer historisch-exegetischen Tiefendimension und ih­rem systematischen Profil durchgearbeitet. Hier treten die Grenzen des (re-)konstruktiven Ansatzes ans Licht, der einen nur punktuellen Vergleich der Ergebnisse der Operationes mit der Auslegungstradition erlaubt, wobei meistens Texte von Augustin und Thomas von Aquin, seltener von Nikolaus von Lyra vorgeführt werden, um davon stets Luthers Auslegung abzuheben. Die für Schneiders christologisches Thema zentralen Aufsätze des späten Gerhard Ebeling, die Schneiders scharfe Urteile über weite Bereiche katholischer oder evangelischer Forschungsgeschichte vielleicht hätten mäßigen können, werden nicht rezipiert. Wohl ist er mit den Grundschritten, die sich in historisch – systematisch – hermeneutisch ausdifferenzieren lassen, wohlvertraut. Sein Hauptakzent liegt aber auf dem systematisierend-umfassenden Anspruch christologischer (Re-)Konstruktion. Hermeneutische Fragestellungen treten – obgleich sie gelegentlich traktiert werden – im Gesamtduktus der Arbeit zurück (41–62, abgetrennt 361.23 f.). Hier liegt im wahrsten Sinne des Wortes die crux interpretum.
(Re-)Konstruktion und Sprachgestalt des Psalters kommen in Schneiders Version häufiger nicht überein. Konvertierungsfehler zwischen Deutschem und Hebräischem hat zwar offensichtlich der Verlag verursacht (86.103.291 u. ö.). Die Macht der Philologie (H. U. Gumbrecht) wird aber auch vom Vf. unterschätzt, wenn er plakativ behauptet, dass »weder Scholastik noch Augustin Christus als Beter kennen« (117), oder wenn er zentrale Aussagen, die in Lu­thers Kommentierung eindeutig nicht eschatologisch gemeint sind, gegen den Textsinn eschatologisiert (WA 5,600,16–19). Es ist kein Zufall, dass sich hier Stilblüten häufen: »Mit Christus bricht die eschatologische Morgenröte an; sein Kreuzesschrei gilt Luther als eschatologisches Glockengeläut« (173, vgl. 133.144). Dieser pleonastische Stil ist m. E. Anzeichen dafür, dass die Synthese aus einer zum Holismus tendierenden (Re-)Konstruktion und Luthers subtiler philologischer Argumentation brüchig ist. Objekt- und reflexionssprachlicher Schreibstil verdunkelt die Performanz von Luthers Sprache. Von Schneider angeführt gelangt sie selten zu Wort (86–89). Eine »Theorie des Gotteswortes« (71) erscheint dem Rezensenten als hölzernes Eisen (weitere Theorien vgl. 2.260.316).
Durchaus ist moderne Christologie religionstheoretisch rekonstruierbar auf der Spur von Idealismus oder Romantik. Die Operationes nennt Schneider anspielend auf das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus einen »›Systementwurf‹ reformatorischer Christologie« (364.211, vgl. 286), ohne diesen Ansatz über die Allusion hinaus plausibilisieren zu können. Eine durchgeführte religionstheoretische Rekonstruktion müsste sich an Autoren wie Schelling, Novalis, Hegel und Schleiermacher orientieren und (quasi- oder krypto-)chalcedonensische Denkfiguren einholen, zumal Christologie oder Verkündigung des Gekreuzigten keine zeitlos gültige Luther-Theorie sein kann.
Ausgezeichnetes Lob verdient Schneiders Entscheidung, die Operationes endlich zum Gegenstand monographischer Untersuchung gemacht zu haben. Die kritischen Pointen schmälern nicht das Verdienst der Arbeit, die es dankenswerterweise unternimmt, endlich den Christus der Operationes im Zusammenhang zu erschließen. Schneiders gelungene Neufassung der Konformitaschristologie als Christi Gegenwart im Glauben und seiner »Gestaltwerdung ... in uns« ist an erster Stelle zu nennen (211–299), ebenso Schneiders herausragende Darstellung von Christus als exemplum fidei und angefochtener Beter (161–165). Die herausgearbeitete innere Differenziertheit der Christusbilder der Operationes wird sich jeder wissenschaftlich oder spirituell Interessierte zu Eigen machen wollen. Für die jüngere Luther-Forschung ist Schneiders Pionierarbeit als Aufforderung und Ansporn zu begreifen, die plurale Christusverkündigung der Psalmen, sofern es nicht bereits geschehen ist, weitergehender Analyse zu unterziehen.
Konzentrierte sich Schneider vor allem auf Luther, bietet Schaede eine weitgespannte dogmen- und begriffsgeschichtliche Untersuchung von hohem Rang. Sie setzt ein bei der lateinischen Vorgeschichte des Ausdrucks ›Stellvertretung‹ und verfolgt diesen Begriff weiter bis zu den Anfängen seiner Etablierung in soteriologischem Kontext. Die Dissertation, die den Rahmen eines wissenschaftlichen Debüts sprengt, wurde 2002 mit dem renommierten Dr. Leopold-Lucas-Nachwuchswissenschaftler-Preis ausgezeichnet.
Schaedes Ausgangspunkt ist die Strittigkeit des Ausdrucks »Stellvertretung« in der Gegenwart. Er korrigiert das gängige Missverständnis, ›Stellvertretung‹ sei eine Erfindung des auslaufenden 18. Jh.s (3). Sechs genauer untersuchte lateinische Vorläufer dieses Verbalnomens werden bereits innerhalb der antiken Profanliteratur verwendet und gehen früher oder später in die soteriologische Begriffsbildung ein: erstens vicariatio bzw. vicarius: Ein Vikar ist auf keinen bestimmten pragmatischen Kontext festgelegt und meint eine Person, die demjenigen, den er vertritt, subordiniert bleibt. Er übernimmt interimistisch oder dauerhaft Amts-Aufgaben, handelt durchaus eigenständig und entlastet die vertretene Person (vgl. Livius, Justinian, Quintilian). Ein Mensch ist laut Pseudoaugustinus als Gottes Bild sein Vikar (28). Der papsttreue Erfahrungstheologe Bernhard von Clairvaux begreift den Papst als vicarius dei oder Christi (34). Adjektivisch meint vicarius, sich zum soteriologischen Problem allmählich öffnend, eine Wechselseitigkeit (60 f.), so bei Gregor dem Großen (vicaria dilectio) oder Cassiodor (vicaria mutatio). Die Übertragung profaner Begrifflichkeit in Erlösungskonzeptionen vollzieht sich nur schleppend, zumal die als-ob-Struktur weltlicher vicariatio (ac si) ein unzureichendes Ver­stehensmodell für die Unvertretbarkeit des je individuellen Sünders ist (70). Erst im späten 17. Jh. wird Christus zum vicarius der Sünder (11). Das altkirchliche Wechsel- oder Tauschmotiv, das sich im vicissitudo-Konzept kristallisiert, weist sachlich, wie ein höchst instruktiver Exkurs herausarbeitet, auf Luthers admirabile commercium voraus (81–91).
Zweiter Vorläufer von ›Stellvertretung‹ ist substitutio, ein Begriff des römischen Erbrechts, wenn jemand bei Antritt eines Erbes endgültig an die Stelle von je­mandem gestellt wird. Daneben nimmt substitutio in christlicher Schöpfungslehre früh die Bedeutung von Existenzsetzung oder -erhaltung an: Gott sub­stituiert Geschöpfe (98), wenn er an die Stelle des alten Adam einen neuen Men­schen setzt (109). Substitutio wird als einer der ersten Begriffe in den soteriologischen Bereich übertragen. Diesem Begriff verwandt ist als dritter Vorläufer von ›Stellvertretung‹ subrogatio, der nicht die heutige pejorative Bedeutung von »Surrogat« hat (116). Er meint die Wahl einer Person an die Stelle einer anderen bei Amtsgeschäften oder der Neubesetzung kirchlicher Ämter (122), wenn Geistliche durch canonica subrogatio mittels Wahl durch andere ausgetauscht werden (127). Soteriologisch gewendet und auf das Menschsein bezogen: Christus als subrogatus der Menschen tritt an die Stelle des Sünders (132 f.).
An vierter Vorläuferstelle steht procuratio. ›Prokurist‹ meint heute jemanden, der für einen Auftraggeber stellvertretend Verträge abschließt. Demgegenüber gilt beim Rechtsgelehrten Ulpian ein striktes »Stipulationsverbot«: Un­mittelbare ›Stellvertretung‹ ist unzulässig. Niemand kann sich zu Gunsten eines anderen etwas vertraglich versprechen lassen (136). Hingegen war eine mittelbare oder verdeckte ›Stellvertretung‹ ohne Wissen des Geschäftspartners üblich. Die allmähliche Lockerung des Stipulationsverbots bedeutete, dass ein procurator als Vermögensverwalter, Fürsorger oder Prozesskurator und haftbarer Bürge im Auftrag eines anderen handeln konnte. Dieses Begriffsfeld etabliert sich nicht in Bezug auf Christi Kreuz (159). Fünftens analysiert Schaede als Stellvertretungskonzeption den Begriff (re)praesentatio, der die Gegenwart oder (konzentrierte) Vergegenwärtigung von jemandem meint und pragmatisch in den Kontexten von Abendmahl (187–190), Herrschaft, Erbrecht und Diplomatie auftritt. Die zuerst von Tertullian vertretene Auffassung von Chris­tus als repraesentator patris kehrt bei Ambrosius von Mailand als Konzeption personaler Repräsentation wieder (185). Boethius hingegen meint, dass auf der Bühne Menschen durch andere vergegenwärtigt werden (173). Innovative mittelalterliche Korporationstheoretiker schließlich dachten Herrschaft als Repräsentationsverhältnis (195). Im 15. Jh. wird ein Konzept von re­praesentatio identitatis entwickelt (202). Ockham hingegen bestreitet, ein Teil einer Korporation könne uneingeschränkte Vertretungsvollmachten innehaben (204). So­teriologisch gewendet wird der Mensch Gott und Gott dem Menschen gegenwärtig (226). Die persona repraesentans ist Urbild des Menschen (229). Sechstens und letztens behandelt Schaede die lociservatura, die interimistische Vertretung eines Richters, und die locitenentia, die das (militärische) Halten einer Stellung bezeichnet. Augustin bezeichnet in diesem semantischen Um­feld den Ort der Sünder als Ort Christi (244 f.). Die profane intercessio, ein Vetorecht, ist jedoch (gegen C. Gestrich) kein direkter Vorläufer des Ausdrucks ›Stellvertretung‹ (248 f.) und nur sehr selten Begriff für das Versöhnungsereignis in Christi Kreuz (264 f.). Fazit der Analyse der (manchmal etwas zu gründlichen) Vorgeschichte von ›Stellvertretung‹ ist, dass es keine eindeutig be­stimmbare Semantik gibt, auf die der Begriff zurückgeführt werden könnte, sondern jeweils begriffsgeschichtliche Bedeutungsverschiebungen (268).
Der zweite Teil von Schaedes Arbeit ist betitelt mit »Abschied von Anselm. Studien zur Anbahnung, Etablierung und Krise des Ausdrucks ›Stellvertretung‹ in soteriologischem Zusammenhang«. Die überraschende und gegenüber von Harnack stichhaltig begründete These lautet, Anselm verweise in Cur deus homo keineswegs eindeutig auf das Motiv stellvertretender Genugtuung. Auch dürfe der Gedanke des Strafleidens bei Anselm nicht überbetont werden (307). Vielmehr dominiere das Satisfaktionsmotiv die Soteriologie (274 f.): Christi Todesakt ist freiwillige und satisfaktorisch fruchtbare datio vitae des Gottmenschen (299). Sie werde mittels glaubender, jedoch pelagianisch getönter Heilsgewissheit angeeignet (306).
Erst Luther bahnt das Stellvertretungsmotiv an, greift aber nicht auf die lateinischen Vorläufer zurück, auch nicht auf vicarius. Dieser wird zum papstkritischen Begriff, was den soteriologischen Gebrauch hemmt. Gleichwohl ist Christus »Furtretter« der Menschen zur Rechten Gottes, Gnadenstuhl bzw. Opfer (318 f.), dessen Blut uns als »Gnadenrock« bekleidet. Christi personales Dasein für uns verbindet Luther in der (laut Schaede zu problematisierenden) Zusammenschau von Stellvertretungs- und Tauschmotiv (347). Calvin schließlich arbeitet das Stellvertretungsmotiv juridisch-systematisch auf und versteht die sachhaft-personale satisfactio des Mittlers Christus im Rahmen der Dreiämterlehre als priesterliches Strafleiden (350), ohne jedoch in strengem Sinne zur Konzeption eines stellvertretenden (Straf)leidens vorzudringen.
Calvins distanzierende »Gerechtigkeitshygiene« verhindert, dass der gerecht-vergeltende Gott und der Sünder vor Gott in Christus sich wahrhaft annähern (391–393). Ein gehemmter Wechsel kommt zu Stande (354). Die knappe Analyse der Konzeptionen von Melanchthon, Chemnitz und der Konkordienformel hat Scharnierfunktion, das terminologische Milieu der Orthodoxie vorbereitend. Die erste aetas der Loci Melanchthons favorisiert personale Begriffe wie pignus oder meritum Christi, aber auch satisfactio und victima. »Opfer« wird in der letzten aetas von 1559 zum Zentralbegriff, während die Satisfaktionsterminologie deutlich zurücktritt. Sie überwiegt hingegen im frühorthodoxen Examen concilii tridentini von Chemnitz und wird durch das Gehorsamsmotiv ergänzt, das auch die Solida Declaratio bestimmt (394–409).
Die antisozinianische Defensio fidei catholicae de satisfactione Christi des Juristen Hugo Grotius, eine »terminologische Pionierleistung«, benutzt zuerst subrogatio Christi (410 f.) und fundiert die Satisfaktionslehre innerhalb eines legalistischen Rahmens biblisch-naturrechtlich. Da der Adressat des Textes der Juristen-Kollege Fausto Sozzini ist, betont Grotius, dass der souveräne und strafgerechte Gott die Strafübertragung von den Sündern auf Christus ohne Rechtsbeugung vornimmt. Die Ermäßigung seiner Strafgesetzgebung (relaxatio legis) – alle Sünder müssten eigentlich sterben – liegt in Christi Genugtuung begründet. Gott ist – anders als Sozzini meint – nicht ungerecht, da Chris­ti Strafleiden an Stelle der Sünder rechtmäßig ist. Gleichwohl ist die Affinität zwischen Stellvertretungs- und Strafmotiv systematisch nicht zwingend (455).
Die antisozinianische Problemkonstellation bietet die entscheidende Verstehensvoraussetzung für die Konzeptionen der lutherischen Orthodoxie: Sie bleiben wegen der sozinianischen Kritik an der Satisfaktionslehre auf den Ausdruck satisfactio fixiert (454). Das Stellvertretungsmotiv führt lange ein »qualifiziertes Schattendasein« (478). Ähnlich fokussiert die reformierte Orthodoxie, Calvin und Grotius rezipierend, die Begriffe satisfactio, poena, meritum und intercessio (520). Selbst orthodoxe Lutheraner wie Hafenreffer, aber auch der Unionstheologe Calixt rufen das Stellvertretungsmotiv nicht auf (460). Bei Johann Gerhard wird es vom Satisfaktionsgedanken überlagert, wenn er wie das Tridentinum oder Bellarmin Christus als causa meritoria auffasst und zu christologischer Werkgerechtigkeit neigt (473). Das Motiv tritt erst spät in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s bei Johann Wilhelm Baier, A. Calov, J. A. Quenstedt und David Hollaz aus seinem Schatten heraus (490). Für seine endgültige Etablie­rung greift Quenstedt auf surrogatio, substitutio, vicariatus und die per­sonal akzentuierte permutatio zurück (509), als Erster Christi Leiden als satis­factio poenalis vicaria bestimmend (505). Gleichwohl bleiben die Stellvertretungskonzeptionen reformierter oder lutherischer Provenienz ein Problem, da ihre soteriologisch-semantische Explikationskraft an Grenzen stößt. Was ge­nau heißt eigentlich, dass Gott in Christus personal an die Stelle von Menschen tritt (543)? Das Apathieaxiom verhindert eine Klärung, das Wort (vom Kreuz) hat keine schöpferische, sondern eine auf satisfactio und Opfertod verweisende Kraft. Christi Singularität und seine Person werden legalistisch oder (selbst noch bei Hollaz) moralisch unterbestimmt (545 f.) – Christus verstummt.