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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

956–958

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Eingeleitet und hrsg. v. Joachim Telle

Titel/Untertitel:

Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingeleitet und hrsg. von Joachim Telle

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1995, 437 S. mit 23 Abb., Lw. DM 120,­. ISBN 3-7728-1666-5

Rezensent:

Johann Anselm Steiger

Vorliegende Edition leistet Pionierarbeit. Hat die germanistische Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten mannigfaltige Anstrengungen unternommen, zentrale Texte des 17. Jh.s erneut zugänglich zu machen, so sieht die diesbezügliche Editionssituation auf theologischer Seite nicht nur traurig, sondern desolat aus. Von einigen wenigen, an einer Hand schnell abzählbaren Ausnahmen abgesehen sind etwa die Werke der orthodoxen Theologen bisher unediert geblieben und Briefausgaben nicht einmal in Sicht. Etwas besser sieht es auf dem Gebiet des in sich höchst divergenten frühneuzeitlichen Spiritualismus und Dissidentismus aus. Jakob Böhmes Werke sind als Reprint zugänglich, die kritischen Ausgaben der Schriften Valentin Weigels und Johann Valentin Andreaes wachsen, und einige andere Dinge könnten aufgezählt werden, etwa die Schwenckfeld-Edition, die sich zunächst einmal der Tatsache verdankt, daß der Schlesier in den Schwenckfeldern eine Nachfolgegruppe sein eigen nennen kann, die an der Zugänglichmachung ihrer Tradition ein vitales Interesse hat.

Briefausgaben religiöser Dissidenten der Frühen Neuzeit jedoch, wie übrigens auch radikaler Pietisten (Friedrich Breckling u.a.), fehlen bislang komplett. Das wiegt um so schwerer, als ein historisch angemessenes und authentisches Bild dieser geistesgeschichtlich eminent wichtigen Strömungen nur gezeichnet werden kann, wenn man auch die keinen Zensurzwängen und sonstigen Akkommodationsmechanismen unterliegende Briefüberlieferung vor Augen hat. Was erstgenannte Bewegung angeht, bewegt sich etwas: Der Germanist Joachim Telle legt eine Teiledition des Briefwechsels des Böhme-Biographen, mystischen Naturphilosophen und Spiritualisten Abraham von Franckenberg (1593-1652) vor, begibt sich stellvertretend auf ein Gebiet der editorischen Grundlagenforschung, das von Theologen offensichtlich noch nicht als das ihre begriffen worden ist, und läßt auf bessere Zeiten hoffen. Diese Teiledition ("ein zusammenhängender Briefbestand größeren Umfangs bleibt zu ermitteln, ebenso eine Sammlung von Franckenberg empfangener Briefe" [21]) bereichert die Quellengrundlage der künftigen F.-Forschung wesentlich. Der Band enthält 60 Briefe F.s an ca. 30 Briefpartner, von denen 24 aus dem Autograph ediert werden, und 25 Briefe von acht Autoren an F. als Regestausgabe.

Eine ausführliche Einleitung (17-57) informiert auch denjenigen, der kein F.-Spezialist ist, gründlich über die Editions- und Forschungsgeschichte in bezug auf F., zeichnet biographische Grundlinien (vgl. auch die bibliographische Zeittafel [59-63]) sowie diejenigen seines literarischen Werkes nach und thematisiert F.s Verhältnis zu Böhme sowie seine alchemistisch-paracelsistischen Neigungen. Es gelingt T., bisher unangefochtene Urteile über F. aufgrund der von ihm edierten Texte zu revidieren bzw. zu differenzieren und so zu einem angemesseneren F.-Bild beizutragen. So war F. ­ anders als bislang angenommen ­ niemals Mitglied der ,Fruchtbringenden Gesellschaft´ (30). Zudem können bis dato offen gebliebene Echtheitsfragen in bezug auf die Abgrenzung der Ps.-Franckenbergiana von den ,echten´ F.-Schriften teilweise beantwortet werden (32) und bisher unbekannt gebliebene Werke F.s als solche zweifelsfrei identifiziert werden (31). Nicht zuletzt die These, F. sei ein professionell "alchemomedizinisch versierter Fachmann" (52) gewesen ­ so T. ­ stellt sich als unzutreffend heraus, wiewohl an seinen "alchemischen Neigungen" (55) kein Zweifel sein kann. Auch, was das Verhältnis F.s zu Böhme angeht, wird die F.-Forschung in Zukunft zu differenzieren haben, da F. Böhme erstaunlicherweise in den Schranken des Luthertums verortete (41) und daher kaum vorbehaltlos als "Zentralgestalt des frühneuzeitlichen Böhmismus" (42) angesehen werden kann.

Im Editionsteil bietet der Hg. als Einleitung zu den Brieftexten jeweils ein stichwortartiges Summarium (die Summarien finden sich [in kürzerer Form] erfreulicherweise auch im Inhaltsverzeichnis), sodann eine Inhaltsangabe des jeweiligen Briefes sowie Informationen zur Überlieferung und über frühere Abdrucke. Literaturangaben und Reflexionen zu den angewandten Editionsprinzipien findet der Benutzer ebenfalls. Der Hg. geht mit der handschriftlichen Überlieferung sehr verantwortungsvoll und umsichtig um. Wenig Mühe mehr jedoch hätte es gemacht, den Leser ­ etwa durch die Verwendung einer Dreiecksklammer ­ darüber zu informieren, wo die Interpunktion ,behutsam´ modernisiert worden ist. So nebenbei: Ist es, wenn man eine kritische Edition erstellt ­ zumal in Zweifelsfällen ­, nicht geboten, das Autograph zu Rate zu ziehen, statt über die "mindere Qualität mancher Kopien" (82) zu klagen?

Nicht nur die F.s Böhme- und Arndt-Rezeption spiegelnden Episteln, sondern auch die geistlichen, poimenisch ausgerichteten Briefe F.s sind theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich von höchstem Interesse. Mystisch (nicht nur Taulersch) geprägte Motive (Selbstverleugnung, Gelassenheit, Geburt Christi im Glaubenden [79 f. u. ö.]) und ein schroffer spiritualistischer Geist-Fleisch-Dualismus verbinden sich mit neu versprachlichten Topoi der ars moriendi (262 f.) und einer ungeheuer vitalen Hoffnung auf die Vollendung aller Dinge im Eschaton (z. B. 87-89), die u.a. auch pansophische Züge erkennen läßt und das Ende des konfessionellen Dissenes herbeisehnt. F.s Briefstil veranschaulicht nicht nur die bestechende Breite der Belesenheit und Gelehrsamkeit ihres Vf.s, sondern zeigt auch, wie stark F. trotz aller Polemik gegen den ,Buchstaben´ des verbum externum aus dem Sprachfundus der (Luther-)Bibel geschöpft hat. Diese Machart der Texte zu analysieren (und nicht nur dies!), ist Hausaufgabe für die historisch-theologische Wissenschaft.

Der Hg., der sich aus verständlichen, nicht zuletzt arbeitsökonomischen und drittmitteltechnischen Gründen entschieden hat, auf eine fortlaufende Kommentierung der Briefe zu verzichten, hat leider auch einen Nachweis der Bibelzitate und -allusionen nicht geführt, obwohl dies die Brauchbarkeit des Bandes entscheidend gefördert hätte. Gravierender allerdings ist, daß dann und wann aufgrund nicht verifizierter Bibelzitate ungenaue Übersetzungen lateinischer Brieftexte entstehen: So z. B., wenn das (Vulgata-)Zitat aus 2Kor 5,7 "per fidem enim ambulamus, non per speciem" (179,32) wiedergegeben wird: "denn wir wandeln im Glauben, nicht im Äußern" (181) (recte: im Schauen).

Trotzdem und trotz kleinerer Versehen (die Verweise auf die Briefnummern in der Einleitung hätten noch einmal überprüft werden müssen: S. 48 muß es z. B. statt ,41/01/21´ ,43/01/21´ heißen) handelt es sich bei vorliegendem Buch um eine höchst wichtige, ja in mehrerlei Hinsicht wegweisende Arbeit. Erfreulich ist, wie sehr sich der Hg. leserfreundlich um eine Erschließung des Werkes durch diverse Verzeichnisse und Register bemüht hat. Auch die Abbildung von Textproben im Anhang leistet weit mehr, als den Benutzer zu erfreuen allein. Die Ausstattung des Bandes läßt in für diesen Verlag vertrauter Weise bibliophile Herzen höher schlagen. Und: Der Band ist bezahlbar. Er gehört in jede Bibliothek, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Quellen des 17. Jh.s zu sammeln und bereitzustellen.