Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1340–1342

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Gailus, Manfred, u. Wolfgang Krogel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000.

Verlag:

Berlin: Wichern-Verlag 2006. 550 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 37,90. ISBN 3-88981-189-2.

Rezensent:

Siegfried Hermle

Im Oktober 2002 fand in Berlin eine von dem Historiker Manfred Gailus und dem Leiter des Landeskirchlichen Archivs Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, Wolfgang Krogel, organisierte Tagung »Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte« statt. Der 2006 erschienene Tagungsband bietet 19 Beiträge, die »eine Zwischenbilanz bisheriger Kirchenkampfforschungen« (15) im Blick auf die einzelnen Landeskirchen geben sollen.
In seinem Vorwort hebt Gailus darauf ab, dass es den Veranstaltern vor allem um vier Aspekte gegangen sei: Es sollte eine Historisierung der Kirchenkampfforschung angeregt, d. h. die Geschichte des Protestantismus in »längere Zeiträume« beispielsweise in »den Zeitraum 1870 bis 1970« eingebettet werden, um so besser »politik- und mentalitätsgeschichtliche« Wandlungen und Kontinuitäten erkennen zu können (17). Zudem sollte zu einer stärkeren Kontextualisierung der Ereignisse vorangeschritten werden; »die Milieuerfahrungen des Protestantismus der NS-Epoche [müssten] zu­künftig mehr in ihrer ganzen Breite und Vielfalt« untersucht werden (18). Weiter gelte es, die Regionen näher zu betrachten und eine Interdisziplinarität führe über die bislang betriebene Theologie-, Kirchen- und Institutionengeschichte hinaus. – Die formulierten Ansprüche werden durch die gebotenen äußerst disparaten Studien nun freilich nur ansatzweise eingeholt.
Im ersten der vier Kapitel sind fünf Beiträge zu nördlichen Landeskirchen zusammengestellt: Klauspeter Reumann untersucht unter der Überschrift »Kirchenkampf als Ringen um die ›Mitte‹« die Verhältnisse in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, während Stephan Linck die ganz unterschiedlichen Entwicklungen in Eutin und Lübeck in den Blick nimmt – wobei freilich Eutin relativ knapp dargestellt wird. Sehr kundig bietet Rainer Hering unter dem Titel »Bischofskirche« die Geschichte der Evangelisch-lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate und Gerhard Lindemann skizziert instruktiv den Weg der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers als »Volkskirche im Nationalsozialismus«. Einen überzeugenden Einblick in eine bislang wenig beachtete Kirche eröffnet Sigrid Lekebusch: Sie zeichnet den Weg der kleinen »evangelisch-reformierten Landeskirche der Provinz Hannover in der Zeit des Nationalsozialismus« nach.
Für Preußen werden die Entwicklungen in vier Provinzialkirchen vorgestellt, wobei Berlin-Brandenburg durch Gailus und Lilian Hohrmann bearbeitet werden. Ergebnisse seiner Habilitationsschrift aufnehmend schildert Gailus die Ereignisse in Berlin als »selbstzerstörerischen Bruderkampf« (161) und sieht die Jahre nach dem Kriegsende als eine »ängstliche Verschweigegemeinschaft«. Hohrmann konzentriert ihre Ausführungen über die Mark Brandenburg auf zwei Beispiele: auf das städtische Gebiet Potsdam und auf das ländlich strukturierte Zorndorf in der Neumark. Thomas Großbölting bietet eine Darstellung des Kirchenkampfes in der Kirchenprovinz Sachsen, den er als »Auseinandersetzung um das geistliche Kirchenregiment« (207) charakterisiert; entgegen der durch die Überschrift geweckten Erwartung wird die Haltung der evangelischen Christen in der »frühen DDR« nicht thematisiert, die Darstellung bricht 1946/47 ab.
Den großen Provinzialkirchen Westfalen und Rheinland sind jeweils zwei Beiträge gewidmet: Peter Noss berichtet über die »Kirchenprovinz Westfalen 1933 bis 1945« und blickt in seinem materialreichen Beitrag besonders auf den Sonderweg der Jahre 1935 bis 1939. Norbert Friedrich stellt dann unter der umfassenden Überschrift »Zur Entwicklung des Protestantismus nach dem Krieg« anhand des Beispiels Westfalen die Auseinandersetzung um die »Selbstreinigung« dar, geht auf die bestimmende Gestalt jener Jahre, Präses Ernst Wilm, ein und führt zudem die Entwicklung der Kirchenkampfforschung – Wilhelm Niemöller! – in Westfalen vor. Günther van Norden bietet bei einer klaren Sympathie für die Seite der Bekennenden Kirche einen kundigen Abriss der Geschichte von »Protestantismus und National­sozialismus im Rheinland«, wobei besonders auf Überlegungen zur Lesekultur des bürgerlich-protestantischen Sozialmilieus und zum »Phänomen der Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen« hingewiesen sei (299). Volker Wittmütz schildert die Geschichte der »rheinische[n] Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg« und zeichnet im Zusammenhang der Schuldbekenntnisse auch jene Impulse der Rheinischen Kirche zur Aufarbeitung ihres Verhältnisses zum Judentum sowie zu den Christen jüdischer Herkunft nach.
Im dritten Kapitel – »Die Mitte« – liefert Thomas A. Seidel in dem weitgehend essayistisch geprägten Beitrag »Im Wechsel der Systeme« kurze schlaglichtartige »Anmerkungen zur evangelischen Landeskirche Thüringens 1919 bis 1989«. Markus Hein konzentriert sich in seinen Ausführungen über die Sächsische Landeskirche nach interessanten statistischen Angaben zu den Verhältnissen in der Weimarer Republik weitgehend auf die Verhältnisse im »Dritten Reich«; herausgestellt wird insbesondere der tiefe Riss, der durch die Landessynode nach der deutschchristlichen Machtergreifung ging.
Der vierte Teil umfasst Beiträge zu den Landeskirchen im Süden und Südwesten: Karl Dienst beschreibt den Weg von »der ›Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen‹ zur ›Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau‹«; im Mittelpunkt steht dabei die Entwick­lung zur Bekenntniskirche und deren Theologie sowie die zentrale Rolle Martin Niemöllers. Informativ und oft reichlich polemisch berichtet Björn Mensing unter der Überschrift »Konservative Lu­theraner zwischen NS-Verstrickung, Selbstbehauptung und Entnazifizierungskritik« – mit spärlichen Belegen – über die Verhältnisse in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Vorgeführt werden die sich sukzessive verschärfenden Konflikte der bayrischen Kirche mit dem NS-Staat – insbesondere ist auf den »Schulkampf« eingegangen – und Überlegungen zur Schuldfrage sowie zu personellen »Konsequenzen aus der Verstrickung der Kirche in den Nationalsozialismus« (442). Gewohnt solide und von einer gründlichen Kenntnis der Quellen geprägt ist der Aufsatz von Jörg Thierfelder über die württembergische Landeskirche. An­schaulich wird die schwierige Zeit zwischen 1935 und 1939 vor Augen gestellt, in der sich die Landeskirche »zwischen Anpassung und Widerstehen« bewegte, und die Rolle von Landesbischof Theophil Wurm gewürdigt. Rainer Lächele reflektiert in seinem Beitrag »Das Geschichtsbild des ›Kirchenkampfes‹ in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg nach 1945« Stationen der Aufarbeitung: Angeführt sind Überlegungen der Kirchenleitung, erste wissenschaftliche Annäherungen in den »Blättern für Württembergische Kirchengeschichte« und die Aufnahme des Themas im viel gelesenen Evangelischen Gemeindeblatt. Materialreich und informativ stellt Thomas Fandel die Vereinigte Protestantisch-Evangelisch-Christliche Kirche der Pfalz vor, wo man bestrebt war, eine gemeinsame Basis der unterschiedlichen Gruppierungen »auf dem gemeinsamen Boden eines positiven Christentums« zu finden (507).
In »Nachträgliche[n] Anmerkungen« führt Gailus zahlreiche offene Forschungsfragen an; auffällig bleibt, dass er jede theologische Verortung und Reflexion ausklammert. Dieses Defizit ist auch im Blick auf zahlreiche weitere Beiträge festzuhalten, enthält der Sammelband mit seinem an Luthers grundlegende Schrift von 1520 anklingenden Titel doch weitgehend verlaufs- und organisationsgeschichtlich orientierte Studien – wobei die Nachkriegsgeschichte deutlich zu kurz kommt. Der Band bietet einen informativen Überblick über den derzeitigen Stand der territorialgeschichtlichen Forschungen und kann Impulse zu einer vertieften Weiterarbeit – durchaus in der Perspektive der eingangs erwähnten vier As­pekte – geben.