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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1335–1338

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Vogel, Christine

Titel/Untertitel:

Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758–1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung. 978-3-8053-3497-6.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2006. X, 433 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte, 207. Lw. EUR 51,00. ISBN

Rezensent:

Christopher Spehr

Mit der Unterzeichnung des Breves »Dominus ac Redemptor« 1773 durch Papst Clemens XIV. wurde der vermutlich mächtigste Orden der römisch-katholischen Kirche in der Frühen Neuzeit, die Societas Jesu, aufgehoben, wurden ihre etwa 800 Residenzen, 700 Kollegien und 300 Missionen geschlossen und die ca. 22500 Mitglieder säkularisiert. Auch wenn sich die Aufhebung in Deutschland aus verschiedenen Gründen bis 1776 verzögerte, so brachte die päpstliche Entscheidung eine Entwicklung zum (vorläufigen) Abschluss, die mit Beginn der Jesuitenaffäre in Portugal 1758 europaweit für Aufsehen gesorgt und die sich konstituierende Öffentlichkeit in der Aufklärungszeit intensiv beschäftigt hatte.
Während die Aufhebung und ihre Folgen in den verschiedenen europäischen Ländern heute zum Teil gut erforscht sind, fehlt zu diesem »Schlüsselereignis in der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts« (Bernard Plongéron) bisher eine das Gesamtgeschehen beachtende wissenschaftliche Synthese. Als kommunikationsgeschichtlicher Beitrag zu diesem Forschungsdesiderat versteht sich die von Christine Vogel verfasste profunde Studie. Sie wurde von Rolf Reichardt betreut und im Wintersemester 2003/04 als Dissertation am Fachbereich »Geschichts- und Kulturwissenschaften« der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen.
V. geht von der Beobachtung aus, dass der Untergang der Gesellschaft Jesu in den Jahren 1758 bis 1773 zu einer Flut von Publikati­onen in Europa führte, die alle zeitgenössischen medialen Gattungen in unterschiedlichen Sprachräumen umfasste. Weil die Medien die Ereignishaftigkeit des Geschehens um die Jesuiten für die europäische Öffentlichkeit überhaupt erst konstituierten, sei von einem »Medienereignis von europäischen Ausmaßen« (6) zu sprechen. Außerdem hätten die Druckmedien durch ihre internationalen Verbindungen eine »publizistische Debatte« hervorgerufen und somit einen länderübergreifenden Diskussions- und Argumentationszusammenhang mit konkurrierenden Deutungsangeboten initiiert. Diesen konstatierten Diskussionszusammenhang analysiert V. kommunikationstheoretisch und rekonstruiert die Jesuitendebatte formal mit Hilfe publikationsgeschichtlicher und biographischer Zugänge. Inhaltlich nähert sie sich mittels der Methoden der historischen Diskursanalyse, wobei sie die konkurrierenden Deutungsmuster des skandalträchtigen Geschehens als Diskurse versteht. Darüber hinaus interpretiert sie die Ordensaufhebung vor dem Horizont der Aufklärung, wobei V. dem multivalenten Begriff und vielschichtigen Phänomen Aufklärung differenziert Rechnung trägt und die Jesuitendebatte in das Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung einzeichnet.
Aus der schier unübersehbaren Masse der Publikationen zur zeitgenössischen Jesuitenthematik greift V. begründet drei Quellengattungen heraus, anhand derer sie ihre Untersuchung zur europäischen Medienöffentlichkeit durchführt: Die Presse in Form von französisch- und deutschsprachigen Zeitungen, die Bildpublizistik und die unter dem Sammelbegriff Streitschriften subsumierten separaten Publikationen. Dass neben den französischen und deutschen Medien auch zahlreiche portugiesische, italie­nische, englische oder spanische Schriften Berücksichtigung finden, zeugt von der hohen Qualität der Studie.
Mit einem kurzen Überblick über die »antijesuitische[n] Traditionen« (22–40) beginnt die materialreiche Untersuchung. Der Antijesuitismus wird als Forschungsbegriff aufgegriffen und auf zwei Traditionsstränge zurückgeführt, deren Themen und Motive sich im Laufe der Zeit mischten: Neben der protestantischen Polemik, die besonders in Deutschland durch die Gegenreformation ausgelöst wurde, war es die innerkatholische Kritik und Abwehrreaktion, die den Orden seit seiner Gründung begleitete. Während zur konfessionellen Polemik in Deutschland lediglich ein paar – durchaus ergänzungsbedürftige – Bemerkungen gemacht werden, konzentrieren sich die Ausführungen auf die antijesuitischen Tendenzen des Jansenismus, jener innerkatholischen Oppositionsbewegung, die seit der Mitte des 17. Jh.s das öffentliche Leben vornehmlich in Frankreich mitbestimmte und einst u. a. durch massive Kritik seitens der Jesuiten hervorgerufen worden war. Mitte des 18. Jh.s waren es die französischen Jansenisten, die auf Grund ihrer publizistischen Aktivität insbesondere durch ihre weit verbreitete Untergrundzeitung »Nouvelles ecclésiastiques« eine den weiteren Debattenverlauf prägende antijesuitische Stimmung in der Öffentlichkeit erzeugten.
Nach diesen einleitenden Orientierungen unterscheidet V. drei Etappen der Jesuitendebatte, die in den folgenden drei Hauptteilen der Studie entfaltet werden: »die portugiesische Jesuitenaffäre (1758–1761)« (41–198), »die Jesuitenverbote in Frankreich (1761–1764)« (199–290) und »die Aufhebung der Gesellschaft Jesu (1765–1773)« (291–307).
Mit dem Attentat auf den portugiesischen König Joseph I. 1758 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen der portugiesischen Regierung unter dem einflussreichen Staatssekretär Sebastião José de Carvalho e Mello, dem späteren Marquês de Pombal, und den Jesuiten zu. Der Minister warf den Jesuiten Mittäterschaft vor, so dass es zu Verhaftungen und Ausweisungen der Jesuiten aus dem Land kam. Den blutigen Höhepunkt der Jesuitenaffäre bildete 1761 die Verurteilung und Hinrichtung des italienischen Jesuitenpaters Gabriele Malagrida. Diesen portugiesischen Konflikten um den Jesuitenorden und ihrer medialen Rezeption und Diskussion ist der umfangreichste Teil der Arbeit gewidmet. V. zeigt, dass und wie die Debatte von den untersuchten In­formationsmedien in »konkurrierenden Ereignisdiskursen« (50–93) geführt wurde. Überwiegend jansenistisch und protestantisch geprägte Medien schlos­sen sich der antijesuitischen Haltung des portugiesischen Hofes und seiner Publikationstätigkeit an, während die katholische Presse die Thematik entweder verschwieg oder antiportugiesisch auslegte. Die verschiedenen De­batten­stränge werden sodann in ihren länderspezifischen Ausformungen vornehmlich in Italien, Frankreich und Deutschland verfolgt. Die Einordnung der portugiesischen Geschehnisse in einen umfassenden historischen Verstehenshorizont, der von Gegnern und Verteidigern des Ordens in die Debatte eingetragen wurde, wird plausibel gemacht und u. a. an der Tyrannenmordthe­matik akzentuiert. Die historische Perspektivierung des Medienereignisses mündet in die Untersuchung antijesuitischer Verschwörungstheorien. Sie speisten sich traditionell aus dem strengen Gehorsamsprinzip und der hierarchischen Organisation des Ordens und führten dauerhaft zum Bild der »jesu­itischen Weltverschwörung«. In der antijesuitischen Bildpublizistik wurden die Jesuiten daher häufig mit Dolch, Giftkelch und Fackel des Aufruhrs dargestellt.
Die zweite Etappe des medialen Diskurses konzentriert sich auf die verschiedenen religiösen und politischen Konflikte in Frankreich, die 1764 zum Verbot der Jesuiten durch Ludwig XV. führten. Insbesondere durch die Jansenisten und ihren Einfluss in den Parlements, den obersten Gerichtshöfen des Königreiches, war es zur »Systematisierung und politische[n] Instrumentalisierung des antijesuitischen Verschwörungsdiskurses« (212–222) gekommen. Gleichwohl wurde die äußerst kontroverse französische Diskussion im europäischen Raum nicht in gleicher Weise aufgenommen wie die portugiesischen Ereignisse.
Die dritte Etappe reicht von der kaum rezipierten päpstlichen Bestätigungsbulle für die Societas Jesu »Apostolicum pascendi« (1765) über die Vertreibung der Jesuiten aus Spanien, Neapel und Parma (1767/1768) bis zur päpstlichen Aufhebung des Ordens (1773). Weil in dieser Phase keine innovativen Ideen in die publizistische Debatte eindrangen, vielmehr ein deutlicher Rückgang der Intensität und Internationalität des Medienereignisses zu beobachten ist, wird diese Etappe zu Recht nur skizzenhaft dargestellt.
In ihren facettenreichen Schlussbemerkungen (308–324) wertet V. schließlich die Jesuitendebatte als Beitrag zur »Polarisierung der Aufklärung« (312). Trug die Debatte einerseits zur Popularisierung der (katholischen) Aufklärung bei, so andererseits zur Formierung des von Jansenisten wie Jesuiten geführten »antiphilosophischen Dis­kurses« (275), der als Gegenaufklärung seine Breitenwirkung erst am Ende des 18. Jh.s entfalten sollte. Dass die zwischen 1758 und 1773 geführte Debatte letztlich über die verschwörungstheoretische Di­mension Langzeitwirkung erzielte, verdeutlicht V. abschließend. Die spannenden Bemerkungen zur Dynamik der deutschsprachigen Debatte, zu der August Ludwig Schlözers antijesuitischer »Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts« (1781) ebenso zählt wie die umfangreiche Publikationstätigkeit der Augsburger Exjesuiten um Aloys Merz, werden am Ende immerhin gestreift. Es dürfte sich lohnen, die Jesuitendebatte im deutschen Sprachraum des späteren 18. Jh.s, an der sich u. a. der Berliner Verleger und Publizist Friedrich Nicolai intensiv beteiligte, mit Hilfe des in dieser Arbeit gewählten Ansatzes zu untersuchen.
Den Gehalt der lehrreichen Studie steigern nicht allein die 38 über den gesamten Band verstreuten und gut kommentierten Abbildungen und die im Anhang abgedruckten Tabellen. Für die zukünftige Forschung unentbehrlich sind neben der bibliographischen Auflistung der Druckgraphiken (340–344) die im Anhang mitgeteilten Titel von ca. 960 Streitschriften aus dem europäischen Kulturraum (344–411). Ein Personenregister, dem ein Sachregister zur Seite hätte stehen dürfen, rundet die luzide Arbeit ab.